DER SPIEGEL 10-1979 + 11-1979


 

„Der Politkommissar hat einen Drehbleistift"
Zu Fuß von Thailand zu den Roten Khmer / Von Denis Reichle (I)
Mit seinem Einfall in Vietnam wollte China die Vietnamesen für deren Einfall in Kambodscha strafen, wo die von China gestützten Roten Khmer unter Pol Pot ein Schreckensregiment errichtet hatten. Anfang des Jahres gelang es als erstem westlichen Journalisten dem Franzosen Denis Reichle, 48, von Thailand aus nach Kambodscha vorzudringen und zu photographieren, was noch kein westlicher Photograph vor die Kamera bekommen hatte: Kambodschaner und Rote Khmer bei der Arbeit, im Militärlager, an der Front gegen Vietnam.


Sonntag, 28. Januar, abends
Heute morgen bin ich von Kuksong aufgebrochen. Ein Kollege hat mich mit dem Motorrad nach Aranjaprathet mitgenommen, das 25 Kilometer weiter nördlich liegt. Ich wußte, daß ich von dort aus zu Fuß die Grenze erreichen könnte, ohne Gefahr zu laufen, auf eine thailändische Patrouille zu stoßen.
Ich kannte bereits die Gewohnheiten der Patrouillen in diesem Abschnitt. Zwei Posten im Abstand von sechs Kilometern machten jeweils Kontrollgänge von je zwei Kilometern nach der einen und der anderen Seite ihres Stützpunktes. Dabei blieb eine Lücke von zwei Kilometern, mehr als ich brauchte.
Schließlich lag die kambodschanische Grenze 500 Meter vor mir. Seit dem Morgen hatte ich sechs Kilometer zurückgelegt und für den Gang über die Grenze eigentlich die Nacht abwarten wollen. Aber ich mußte erkennen, daß das Unsinn gewesen wäre: Auf der anderen Seite lag über fünf Kilometer tief ein Minenfeld, das man im Dunkeln besser nicht überquert.


Über die Minenfelder sprachen alle Flüchtlinge in Thailand. Fast jedesmal, wenn ein Trupp von ihnen die Grenze überquerte, gab es Unfälle, selbst auf dem thailändischen Territorium. Vor acht Tagen ist eine ganze thailändische Patrouille in die Luft geflogen: Ein Soldat starb, einem wurden beide Beine amputiert.
Im übrigen schienen mir manche Informationen, die so im Umlauf waren, übertrieben zu sein. Wenn ganze Flüchtlingsscharen herübergelangten, mußte ich als einzelner auch hinüberkommen.
Seit vier Jahren werden über Kambodscha Greuelmeldungen verbreitet: eine unglaubliche Säuberung, Versklavung eines ganzen Volkes, Leichenfelder. Wie alle Welt, habe ich Photos von Zivilisten gesehen, die wie Ochsen vor einen Pflug gespannt waren und unter Aufsicht Reisfelder pflügten. Deshalb wollte ich den „neuen Menschen" endlich sehen, den Regierungs- und Parteichef Pol Pot geschaffen haben soll. So hatte ich mir auf einen Zettel in der Khmer-Sprache schreiben lassen: „Ich bin französischer Reporter, ich möchte Ministerpräsident Pol Pot sprechen."
 

Montag, 6 Uhr morgens
Ich hatte ziemlich gut geschlafen, an einem Wasserloch neben meinem Versteck meine Feldflasche gefüllt und ausgiebig getrunken.
Ich war einer Reihe von Feuerstellen gefolgt in der Hoffnung, daß die Minen durch die Wärme zur Explosion gebracht worden seien. Gelegentlich sah ich kleine Krater, einige Dutzend Zentimeter tief: Gewiß gingen hier Flüchtlinge, die es erwischt hatte.
Fallen waren noch sichtbar: Buschwerk aus Ästen und Zweigen, durch Regen und Trockenheit zusammengesackt. Darunter richtige Gruben von zwei Meter Länge und ebenso tief, mit aufgesteckten Bambusspießen.
Springend hatte ich auch die militärische Grenze überquert. Der Wald war relativ licht, eine Art Elefantengras bis Brusthöhe, kein Luftzug, kein Laut.


Montag abend
Ich war ein gutes Stück gegangen, ungefähr vier bis fünf Kilometer pro Stunde. Seit dem Morgen hatte ich am Weg 18 Leichen gezählt, unmöglich zu sagen, ob es sich um Zivilisten oder Rote Khmer handelte, ob sie durch Kugeln getötet wurden, an Krankheit oder Erschöpfung gestorben waren. Nur noch einige Kleiderfetzen hingen an Knochen. Aber wenn schon 18 Leichen an meiner Marschroute lagen, dürften links und rechts noch mehr gelegen haben.
Das Eindringen nach Kambodscha war viel einfacher als gedacht. Ich hatte alle Dörfer umgangen. Diese sind am Lärm der Tiere, an den Reisfeldern, den Kokospalmen und Bananenbäumen von weitem zu erkennen. Zum Glück war das Land leer, niemand ging im Wald spazieren.
Ich wußte nicht mehr, wo ich war. Es gab kein Schild, das auf eine Stadt oder in eine Richtung wies. Anscheinend hatten die Roten Khmer alle Schilder beseitigt. Ich marschierte auf leeren Wegen, ohne die geringste Vorstellung zu haben, wohin sie führten oder woher sie kamen.

 


Dienstag morgen
Ich habe den letzten Tropfen aus meiner Feldflasche getrunken. Dank meiner Absicht, die Dörfer zu meiden, traf ich auch auf keine Wasserstellen. Es war die trockene Jahreszeit.

 

Mittwoch, 16 Uhr
Seit diesem Morgen habe ich mir immer wieder gesagt, daß ich nie mehr ablehnen würde, ein Glas mitzutrinken, und nie wieder etwas in einer Flasche lassen würde, wenn ich aus einem Lokal gehe.
Seit 30 Stunden habe ich nichts mehr getrunken und allem nachgetrauert, das ich in meinem Leben nicht getrunken habe.
Da waren plötzlich Menschen vor mir, Kambodschaner, 200 Meter entfernt auf einem Reisfeld. Das waren, dachte ich, zweifellos die letzten Minuten meiner Freiheit, aber mein Durst war zu groß. Einige arbeiteten nicht, es sah so aus, als bewachten sie die anderen. Offenkundig hatte keiner Waffen. So konnten sie mich wohl nicht niederschießen, ohne mich angehört zu haben.
Als sie sahen, daß ich auf sie zuging, aufgetaucht aus dem Nichts, als sei ich der Erde entsprungen, näherten sie sich mir.
Zwei Aufseher durchsuchten mich und nahmen den Inhalt meiner Taschen an sich. Sie teilten die Beute: Medikamente, Zigaretten, ein Messer. Sie ließen mir die Photoapparate, die ich umgehängt hatte, und alle Filme. Dann führten sie mich zum Chef der Miliz.
Dieser verstand offenbar nichts. Ein Ausländer, allein, zu Fuß, 110 Kilometer im Inneren Kambodschas. Ein Marsmensch mitten auf dem Lande in Frankreich hätte kaum ähnliches Aufsehen erregt. Ich zeigte ihm sofort meinen kleinen Zettel: „Ich bin französischer Reporter, ich möchte den Ministerpräsidenten Pol Pot treffen."
Von diesem Augenblick an war ich für sie fast unberührbar. Der Name Pol Pot wirkte wie ein Elektroschock. Der Milizchef wußte nicht, was er mit mir machen sollte. Ich benutzte diesen kleinen Effekt, um meine Feldflasche am Brunnen zu füllen, sie auf einen Zug zu leeren und sie wieder zu füllen.
Der Milizchef führte mich zu einem Politkommissar. Eines hatte ich in der Organisation der Roten Khmer bereits begriffen: Die Kleidung hängt von der Wichtigkeit ab. Die Ärmsten, die Zivilisten — Männer, Frauen, Greise, Kinder — tragen schwarze Lumpen. Nach Machtergreifung der Roten Khmer wurden von einem Tag auf den anderen alle Kleidungsstücke schwarz gefärbt. Nach vier Jahren ergibt das alle Schattierungen von Grau.
Die Miliz und der Aufseher gehen barfuß wie die Zivilisten, aber sie tragen den tiefschwarzen Pyjama-Anzug und oft eine Mao-Mütze. Die Miliz ist nicht bewaffnet. Dagegen tragen die Roten Khmer, die Soldaten, Sandalen aus Rohkautschuk und ein Gewehr, das chinesische AK 47. Der Politkommissar hat einen Drehbleistift.
Während des einstündigen Marsches zu dem Politkommissar konnte ich insgeheim meine ersten Photos machen: Baracken, ein Militärlager, ungefähr 30 Leute lagen unter freiem Himmel auf Hängematten und Betten.
Der Kommissar hatte meinen Zettel gelesen, er war perplex. Die Zivilisten hatten sich um mich geschart, keinerlei Feindschaft. Das war der Augenblick, in dem über mein Schicksal entschieden wurde. Nach einigen Minuten kritzelte ein Unteroffizier mit dem Drehbleistift etwas auf ein Stück Papier und reichte es einem Soldaten, der damit davonging.
Die Unterhaltung war schwierig: er auf kambodschanisch, ich auf französisch. Durch Gesten hatte ich verstanden, daß er sich Sorgen über meine Gesundheit machte. Er ließ meine Feldflasche mit Palmensaft füllen, ich setzte mich, man bot mir Reis und Trockenfleisch an. Ich verstand sogar, daß ich mich hinlegen dürfe, wenn ich mich ausruhen wolle.
Ich habe den Trick versucht, „Andenken-Photos" zu machen, ohne Erfolg. Ich beruhigte die aufgebrachten Wachen, indem ich meine Apparate ostentativ in meinen Brotbeutel steckte. Morgen würden wir weitersehen.
 

Donnerstag
Ich hatte den ganzen Tag photographieren können. Morgens ließ mich der Mann mit dem Bleistift in das Dorf zurückbringen, wo ich mich gestern zu erkennen gegeben hatte. Dieses Dorf heißt Soung.
Und dort nun konnte ich großartige „Andenken-Photos" machen. Alle Zivilisten standen um mich herum. Sie boten mir zu essen an: Eier, Reis und reichlich Gemüse, offenbar vom Besten, was sie hatten. Ich saß sogar in einer Art Speisesaal mit Tischen und Holzbänken.
Unterwegs sah man Scharen von Zivilisten, die auf dem Weg zur Arbeit waren. Jeder arbeitet hier offenbar vom jüngsten Alter an, Kinder ab sechs Jahren, zwölf Stunden täglich.
Mittags eine Unterbrechung von einer Stunde, abends bei der Rückkehr zwei Pflichtstunden politische Erziehung, jeden Tag. Montag vormittag ist Ruhe, ausgenommen eine Pflichtversammlung, auf der ein Politkommissar fünf Stunden lang einen Monolog hält. Um 13 Uhr beginnt die Arbeit wieder und damit eine neue Woche.
An der Spitze der Hierarchie stehen zunächst die chinesischen Khmer. Sie sind militärische Kommissare oder Kommandanten. Darunter folgen die Roten Khmer, die Soldaten, meistens noch Kinder. Das Durchschnittsalter beträgt 17 Jahre, aber es sind auch sehr viele jüngere, von 12 bis 15 Jahren.
Unter ihnen steht die Miliz mit den Aufsehern. Diese sind nicht bewaffnet. Im allgemeinen stammen sie aus den Gebieten, die schon zur Zeit von Lon-Nol unter Kontrolle der Roten Khmer waren. Im Alter von 25 bis 30 Jahren werden die früheren Soldaten manchmal Milizionäre.
Ganz unten steht der Zivilist, der Sklave, der alles und jeden fürchtet.
Für die Herren ist er nur ein Werkzeug, eine Schaufel oder eine Hacke, und er verdient keine Rücksichtnahme. Er kann vor Erschöpfung, Krankheit, Hunger krepieren, das macht nichts. Er ist nur ein Werkzeug für eine Schale Reis pro Tag!



 

 

„Die lesen können, verheimlichen es"
Zu Fuß von Thailand zu den Roten Khmer / Von Denis Reichle (II)
Von einem thailändischen Flüchtlingslager aus gelang es Anfang dieses Jahres erstmals einem westlichen Journalisten, in das von vietnamesischen Truppen besetzte Kambodscha vorzudringen: Durch Minenfelder und Dschungel marschierte der Franzose Denis Reichle, 48, allein in das von der Außenwelt abgeschlossene Land. Rote Khmer nahmen ihn gefangen, ließen ihn aber ihren Alltag photographieren. Sein Passepartout war ein Zettel, auf der in der Khmer-Sprache stand: „Ich bin französischer Reporter und möchte Ministerpräsident Pol Pot sprechen."


Vielleicht ist es nicht richtig, daß ich in meinem Tagebuch alles schwarz auf weiß aufschreibe, aber ich habe das Gefühl, daß man mich nicht mehr durchsuchen wird. Wir sind in Richtung Westen zurückgekehrt. Ein Marsch von ungefähr 30 Kilometern.
Der Distriktchef ist ebenso unentschlossen wie seine Untergebenen. Er hat mir als einziger Person seinen Namen genannt. Er heißt Eang. Er ist 30 Jahre alt, verheiratet, ein Kind. Er ist von seiner Familie getrennt und weiß seit vier Jahren nicht, wo sie sich aufhält. Alle sind entwurzelt. Die alten Dörfer und Städte existieren nicht mehr, sind leer. Man hat woanders andere Unterkünfte gebaut.
Kein Kind ist bei seinen Geschwistern oder seinen Eltern. Niemand hat mehr eine Identität oder eine Familie. Ich bin sehr erstaunt, daß Eang mir seinen Namen genannt hat. Mein „Pol Pot"-Papier hat ihn beeindruckt.


Sonnabend, 3. Februar
Ich werde immer an die nächsthöhere Instanz der politischen Führung weitergereicht. Solange sich keine von ihnen für mächtig genug hält, in meiner Angelegenheit eine Entscheidung zu treffen, bin ich beruhigt. Sie sind durch meinen Fall völlig überfordert. Wenn ich weiter so in der Hierarchie emporklettere, treffe ich vielleicht am Ende doch noch Pol Pot.
Alle Befragungen verlaufen gleich. Asiatische Geduld und asiatisches Lächeln. Eine Höflichkeit, die mich nicht beruhigt, denn mit der gleichen Stimme, dem gleichen Lächeln und der gleichen Miene kann man mir mitteilen, daß man mich freundlich zur Grenze geleiten oder aber daß man mich in einer Minute erschießen werde.
Immer wieder die gleiche Frage: „Für wen arbeiten Sie?"
„Ich bin französischer Reporter. Ich arbeite für ,Paris Match'."
„Ja, aber für wen arbeiten Sie, die Russen oder die Amerikaner?"
Sie sind überzeugt, daß ich für irgendeine Macht arbeite. Ich muß ihnen dann meinen Lebenslauf erzählen.
Gestern stieß ich auf einen Kommissar, der sehr gut französisch sprach. Er hat in Toulouse studiert.
„Kennen Sie Toulouse?" fragte er mich.
„Nein, überhaupt nicht, ich bin nu mal durchgefahren."
Das schien ihn mächtig zu ärgern, daß man in Frankreich wohnen könne ohne einen einzigen Straßennamen in Toulouse zu kennen. Zur Strafe, nehme ich an, hat er mir mein Feuerzeug weggenommen.
Umgekehrt spielte ich mit seinem, einem Benzinfeuerzeug in Silber, Privileg seines Dienstgrades, und am Ende der Unterhaltung steckte ich es mir in die Tasche.


Freitag
Wenn ich auf eigene Faust eine organisierte Reise nach Kambodscha vorzuschlagen gehabt hätte, Pnom Penh ausgenommen, hätte ich den Weg genommen, den ich jetzt zurücklegen muß. Wenn dieses Abenteuer gut ausgeht, schulde ich meinen Führern Lob.
Wir marschieren immer gen Westen, am Rande der Nationalstraße 5, die die Frontlinie zu den Vietnamesen bildet. Die Vietnamesen sind genau auf der anderen Seite.
Wir begegnen endlosen Reihen von Zivilisten, die sich unter der Führung der Miliz zur Arbeit begeben. Tausende entlang der Straße. Ich beginne zu begreifen, warum das Innere des Landes mir leer erschienen ist. Man möchte meinen, die ganze Bevölkerung lebt nur auf dieser Achse. Das stimmt, denn sie müssen das Militär ernähren.
Meiner Schätzung nach müssen ungefähr 15 000 Soldaten entlang dieser Route stationiert sein. Sie sind bewaffnet mit dem chinesischen Gewehr AK 47, mit einigen Panzerabwehrgeschützen B 40 und kleinen chinesischen Mörsern vom Kaliber 60. Wenn ich daran denke, daß man in Thailand von einer Gegenoffensive der Khmer spricht! Wie könnten sie gegen Kanonen vom Kaliber 105 und 150 anrennen und gegen Panzer! Es sei denn, sie stürmen, um sich in Stücke hauen zu lassen.
Den ganzen Morgen wurden wir mit vietnamesischen Granaten belegt. Die Explosionen der 105er Kanonen klingen ein wenig trocken, und die der 150er erzeugen einen weit dumpferen, donnernden Ton. Die Vietnamesen haben das Land buchstäblich in zwei Teile zerschnitten, und sie haben sieh entlang dieser Nationalstraße 5 festgesetzt. Ohne Schwierigkeit sind sie fast bis Thailand vorgedrungen, bis auf sechs Kilometer von der Grenze entfernt.
Sie haben die an der Strecke liegenden Städte besetzt und dort ihre Panzer konzentriert, ungefähr 30 in Nimit, etwa 50 in Battambang und ebenso viele in Pursat.


Zwischen diesen drei Punkten haben sie Artillerie aufgestellt, die im allgemeinen von elf Uhr vormittags bis drei oder vier Uhr nachmittags schießt.
Die Roten Khmer haben von der militärischen Strategie eine fast romantische Vorstellung — so, als spielten ihre Generäle mit Bleisoldaten. Drei Reihen liegen ordentlich ausgerichtet in Schützengräben, drei Reihen hintereinander, mit jeweils einem Zwischenraum von 500 Metern. Ein Bilderbuch-Krieg! Schade, daß es Nacht war, ich konnte keine Photos machen.
Wir haben die Khmer-Front überquert, um den Abschnittskommandanten aufzusuchen. Er ließ mich nicht in sein Haus. Ich blieb zwei Stunden mit ihm draußen. Das gleiche Verhör wie gewöhnlich. Er mußte ein sehr bedeutender Mann sein: In seiner Tasche steckten vier goldene Füllfederhalter.
Man ließ mich wieder zu den hinteren Linien zurück. Mein „Pol Pot"-Papier in der Tasche, ich könnte es küssen. Die kleine Botschaft wirkt Wunder.
Die Hoffnung, bis zum Ministerpräsidenten vorzudringen, habe ich noch nicht aufgegeben. Jedesmal stürze ich mich wieder in die gleichen Erklärungen: „Die Anti-Khmer-Propaganda spricht von Leichenfeldern, von täglichen Tötungen. Heute sind die Vietnamesen bei euch. Mir gegenüber könnt ihr Erklärungen abgeben. Ich biete euch die beste Gelegenheit, um auf alle diese Vorwürfe zu antworten."
Offenbar machen sie sich weder aus ihrem Markenimage noch aus ihrer Propaganda etwas. „Der neue Mensch" braucht alle diese Nichtigkeiten nicht.
Einstweilen hat es den Anschein, als begebe sich „der neue Mensch" ernsthaft in die Vergangenheit: Abgesehen vom Besitz der Waffen, geht dieser Rückschritt noch hinter den Höhlenmenschen zurück.
Während alle Länder der Dritten Welt sich bemühen, das Analphabetentum zu beseitigen, wurde hier das gesamte Schulsystem abgeschafft. Keine einzige Schule, kein Unterricht, außer den politischen Vorträgen. Niemand lernt mehr lesen. Diejenigen, die lesen können, verheimlichen es, denn die Säuberung unter den Intellektuellen war blutig.
Heute sind die Bücher — vorzugsweise buddhistische — nur noch dazu gut, sorgfältig Seite für Seite zerrissen zu werden, um daraus Zigaretten zu drehen. Die Tabakblätter, am Morgen gepflückt, werden schon am Abend geraucht, nachdem sie nur ein wenig getrocknet sind.
Die mangelnde Ausbildung des „neuen Menschen" bringt ernsthafte Rückschläge für das Regime. Kein Soldat ist in der Lage, sein Material zu reparieren. Es gibt keine Elektrizität, kein fahrtüchtiges Fahrzeug. Die Kommunikation erfolgt durch Träger — zu Fuß. Heute abend habe ich zwei Kinder gesehen, die mit einem Sendegerät spielten. Sie überzeugten sich von dem Wunder der Technik, indem sie in den Apparat hineinschrien. Natürlich verstanden sie sich: Sie waren zehn Meter voneinander entfernt.
Ein Offizier sagte mir während des Essens, wobei er seine Hände über die Ration breitete: „Seit zwölf Jahren mache ich Revolution. Und was habe ich heute davon? Eine einfache Schale Reis!" Er hatte die Nase voll vom Militär.
„Der neue Mensch" befindet sich voll in der Rückentwicklung. Auf jeden Fall ist er ein schmutziger Mensch. Er wäscht sich nie. In ganz Kambodscha gibt es kein Stück Seife. Auch keine Wäsche. Seit meiner Ankunft habe auch ich mich nicht mehr waschen und rasieren können. Und meine Wäsche zum Wechseln hat man mir gestern gestohlen. Beim Erwachen war die Tasche leer.
So stinke ich also genauso wie sie! Ich bin dreckig! Ich bin ein „neuer Mensch"!


Sonntag
Gestern abend zwang uns heftiges vietnamesisches Artilleriefeuer, uns fünf Kilometer zurückzuziehen. Heute kehrten die Armee der Bleisoldaten und ich an den gleichen Ort zurück. Ein Angriff der Roten Khmer ist nicht möglich ... Wenn die Vietnamesen wollten, gehörte ihnen das ganze Land!


Montag
Heute vormittag hatte ich Anspruch auf die wöchentliche Ruhezeit. Fünf Stunden politischer Vortrag. Der Kommissar empfing mich in seiner Versammlung. Er schien entzückt zu sein, als er sah, daß ich seine Zuhörer photographierte — 4000 Personen.
Die Sklaven, die auf der Erde saßen, kümmerten sich überhaupt nicht um das, was man ihnen erzählte. Sie warteten geduldig und wußten, daß sie am Ende des Vortrags wieder auf die Felder zurückkehren mußten. Es war kein Schlagwort zu wiederholen, keine Frage, keine Wortmeldung. Dennoch führte der Kommissar heute etwas Neues ein. Er bat mich, mitten in seinem Monolog, zu ihnen auf französisch zu sprechen. In umständlichem Französisch erklärte er mir, was ich alles an Schlechtem über die Russen und Vietnamesen sagen müsse.
Eine groteske Situation. Ich sprach französisch zu Leuten, die überhaupt nichts verstanden, während ein politischer Kommissar die Worte übersetzte, die ich auf sein Geheiß sagen sollte. Ich fügte hinzu: „Wenn irgend jemand von euch französisch spricht, möge er nach der Versammlung bitte zu mir kommen." Niemand kam.
Es gab ein altes Radio mit einem magischen Auge und großen Knöpfen. Eine Rede des „Schöpfers Pol Pot": Leider habe ich nichts verstanden. Nach den „göttlichen Worten" ließ ich ein wenig die Phantasie spielen. Ich suchte einen ausländischen Sender und bekam westliche Musik. Ich fing an zu tanzen. Eine enorm komische Wirkung! Endlich echtes Lachen!
Mein Gastgeber zeigte sich freundschaftlich. Bei Tisch: gebratenes Huhn. Die Behandlung eines Würdenträgers. Meine Aktien steigen.


Dienstag
Erneut ein Fußmarsch. Hitze, Staub und vor allem der Schmutz. Und dann weiß ich vorher nie, wohin man mich führt. Diese Wege enden nie. Dennoch habe ich meine Bewacher heute geblufft. Sie luden mich ein, mit ihnen das „Taxi" zu besteigen, einen Ochsenkarren. Ich lehnte es ab, indem ich durch Zeichen zu verstehen gab, daß ich lieber zu Fuß gehe. In ihren Augen blitzte etwas auf. Dabei ist mein linker Fuß eine einzige große Blase.
Heute morgen haben wir Battambang verlassen und sind jetzt in der Nähe von Sisophon, das in den Händen der Vietnamesen ist.


Donnerstag
Noch näher werden wir nie an die Grenze herankommen. Den Tag habe ich in Poipet zugebracht, fünf Kilometer von der thailändischen Grenze entfernt.
Das war das ernsthafteste und zugleich unbequemste Verhör. Heftiger Artillerieangriff der Vietnamesen. Mit meinem Kommissar saßen wir sechs Stunden lang, solange der Artilleriebeschuß dauerte, in einem unterirdischen Unterstand. Dann ging das Verhör wieder eine Stunde lang weiter. Alles wurde dabei gestreift. Mein Studium, mein Leben, meine Arbeit. Er fragte mich, ob ich einen Radioapparat hätte, ob ich ein russischer Agent sei. Mein Kompaß machte ihn sehr neugierig.


Sonnabend
Zum erstenmal begleitet mich dieselbe Gruppe wie am Vortag, sechs junge Leute. Der jüngste von ihnen ist zwölf Jahre alt. Er trägt sein Gewehr AK 47 so, als sei er damit geboren. Er legt es nie aus der Hand. Der Chef ist 17 Jahre alt, er ist erst ruhig, als ich in einer Hütte bin. Er möchte gern, daß ich so viel wie möglich schlafe, damit er mich weniger zu bewachen braucht. Der Politkommissar von gestern ist bei uns. Er geht auch zu Fuß.


Immer das Artilleriefeuer der Vietnamesen. Immer wieder diese endlosen Kolonnen von Zivilisten, die zur Arbeit gehen. Die Vietnamesen haben sich verrechnet, wenn sie bei ihrer Ankunft auf einen Aufstand der Bevölkerung hofften. Die hat dazu nicht mehr die Kraft. Die Sklaven sind durch die zwölf Stunden Arbeit täglich erschöpft. Die Herren, die Soldaten, lassen die Sklaven für sich arbeiten. Diese sterben dann an Krankheiten, vor allem an Malaria, vor Schwäche und Hunger. Es zählt einzig und allein der junge Mann, der eine Waffe tragen kann. Je jünger er ist, um so blinder gehorcht er.
Dieses System ist eine absolute Negation. Darin gibt es auch nicht eine einzige edle Idee! Sähe ich es nicht, würde ich es nicht glauben. Das hier ist die Herrschaft von Kindern in Dreck und in Waffen!


Sonntag
Nun ist es vorbei! Sie haben mir meine Photoapparate weggenommen. Der Kommissar war unerbittlich. Ich habe ihn fast auf Knien angefleht, mir doch mindestens einen zu lassen: „Das ist das einzige, was mich noch mit der Außenwelt verbindet. Das ist der einzige Grund, warum ich hergekommen bin." Nichts zu machen. Er hat mir alles weggenommen, auch die Filme.
Zum Glück hatte ich mit so etwas gerechnet. Seit einigen Tagen hatte ich meinen Trick vorbereitet. Alle meine belichteten Filme: im Slip. Und ungefähr 20 neue Filme so zurückgespult, daß sie wie belichtete Filme aussahen. Ich hatte sogar Nummern draufgeschrieben. Der Form halber protestierte ich heftig — vor allem aber auch, damit sie nicht woanders suchten. Das klappte. Um nicht irgendwo überrascht zu werden, ziehe ich immer bei der Ankunft meine Schuhe aus und verstecke meine Filme in meiner Hütte. Ich weiß, man wird mir erlauben, meine Schuhe wieder anzuziehen, wenn ich einen neuen Marsch antreten muß. Dann nehme ich auch die Filme an mich.
Wir entfernen uns immer mehr von der Grenze. Jetzt wird es unbedingt Zeit, daß ich mich aus dem Staube mache. Ich fühle mich nun nämlich tatsächlich als Gefangener. Wenn sie zufällig irgendeine Vorrichtung haben, um meine Filme zu entwickeln, werden sie sehen, daß ich sie betrogen habe. Der Countdown hat begonnen. Die Spannung im Gehirn ist unerträglich. Und dann sind da auch die Granaten.
Ich habe nicht Lust, unter einer vietnamesischen Granate zu verrecken.


Donnerstag
Heute nacht oder wenig später muß es geschehen. So schnell wie möglich. Ich denke nur noch daran. Wir befinden uns 70 Kilometer von der Grenze entfernt. Wenn wir über 110 Kilometer kommen, ist es für mich mit einer einzigen Feldflasche Wasser nicht mehr machbar. Der Politkommissar hat mich informiert, meinetwegen sei eine Untersuchung eingeleitet worden.
Zwei Posten halten Wache, während die anderen schlafen. Ich habe festgestellt, daß gegen zwei Uhr morgens die 12- und 13jährigen Wachposten dösen. Alles in allem sind es vielleicht schreckliche Rote Khmer, aber es sind auch Kinder... Ich habe daran gedacht, ihnen ein Gewehr wegzunehmen. Das läßt sich leicht machen, und selbst wenn . . . aber wenn man mich dann wieder einfängt! Ich ziehe es vor, abzuhauen, ohne Schaden anzurichten . . . Das Pol-Pot-Regime hat zumindest ein Gutes für mich: Hier gibt es kein Gefängnis.
Das ganze Land ist ein Gefängnis. Ein riesengroßes Konzentrationslager. Aber ich habe darin noch eine gewisse Bewegungsfreiheit. Die Wachen bleiben vor dem Haus. Sie gehen nie nach hinten. Auf dieser Seite ist ein großes Hindernis. Blätter liegen auf der Erde, so groß wie Fächer, und sie machen einen schrecklichen Lärm. Ich habe mir einen Haufen kleiner Steine besorgt. Gleich werde ich mit meinem Trick beginnen. Ich werde aus dem Fenster Steinchen auf die Blätter werfen und schnell auf meinen Beobachtungsposten zurückkehren, um zu sehen, wie die Knaben reagieren. Ich hoffe, daß sie sich nach dem zehnten Mal daran gewöhnt haben. Dann komme ich dran. Meine Tasche ist fertig, und meine Feldflasche ist bis oben mit Wasser gefüllt .. .


Freitag
Nur eine Viertelstunde, um zu verschnaufen. Ich pfeife auf die körperliche Anstrengung, die Müdigkeit. Am Ende steht die Freiheit. Über die Hälfte des Weges mußte ich ohne Halt zurücklegen. Aber sie werden mich nicht wiederfinden. Meine List war erfolgreich. Beim ersten Rascheln der Blätter sprangen die Jungen auf.
Beim achtenmal war es soweit. Sie rührten sich nicht mehr. Ich preschte los, fünfzig Meter. Ich blieb ein paar Sekunden stehen, um die Reaktion zu hören. Nichts. Dann lief ich bis zum Wald . . . und ich marschiere seit zehn Stunden. Eine Zwangsvorstellung läßt mich nicht los: Das Minenfeld! . . . Die Minen . . . die Minen . . .


Sonnabend, 10. Februar
Ich habe es geschafft . . . Eine Frau, die auf dem Feld arbeitet, ist rot gekleidet ... ich bin wieder in Thailand.