DER SPIEGEL 11-1977 (S. 120-123)


Sofort hinaus
Die neuen kommunistischen Herren verüben Völkermord an den eigenen Landsleuten: In fast zwei Jahren Frieden sind schon mehr Menschen gestorben als in fünf Jahren Krieg — über eine Million.
Mittag in Pnom Penn am 17. April 1975. Bei Temperaturen von 40 Grad waren nur wenige Menschen auf den Straßen der Dreimillionenstadt. Plötzlich schwärmten schwerbewaffnete Rote-Khmer-Soldaten aus, schlugen an die Haustüren und befahlen den verschreckten Bewohnern: „Sofort hinaus, schnell, die Stadt wird geräumt."
Keinem wurde erlaubt, mehr als die notwendigsten Habseligkeiten zusammenzupacken. Jeder mußte binnen Minuten, so wie er war, auf die Straße. Für niemanden gab es eine Ausnahme.
In der durch Flüchtlinge heillos übervölkerten Hauptstadt entstand unbeschreibliches Gedränge. Kinder schrien nach ihren Eltern, sie wurden von den Soldaten unbarmherzig weitergestoßen. Zögernde wurden auf der Stelle erschossen. Von Todesangst gepackt, ließen sich die Menschen weitertreiben wie eine endlose Herde Vieh. Hochschwangere Frauen mußten sich weiterschleppen, bis sie auf der Straße niederkamen.
Vorbei an Fabriken bewegte sich der Zug, vor den leeren Gebäuden lagen die Leichen der Arbeiter. Wer trotz Ermahnung zu langsam ging, wurde erschossen. Dennoch war das Gedränge so stark, daß die Menschen am Tag nur
wenige Kilometer vorankamen. Wer zu fragen wagte, wo das Ziel des Elendstrecks liege, erhielt keine Auskunft.


So wie aus der Hauptstadt Pnom Penh, so wurden in jenen Tagen auch die Bewohner aller anderen größeren Orte des Landes vertrieben. Doch das war nur Anfang der beispiellosen Zerschlagung eines Staatswesens durch die eigenen Landsleute.
Was die Roten-Khmer-Revolutionäre danach begannen und in totaler Abschirmung von der Außenwelt bis heute durchhalten, dagegen verblassen die Taten eines Idi Amin, kann kein KZ-General Pinochet in Chile mithalten, selbst die blutige Kommunistenjagd vor einem Jahrzehnt in Indonesien, der Hunderttausende zum Opfer fielen, war dagegen eine unbedeutende Episode. In Kambodscha wird buchstäblich Genozid am eigenen Volk betrieben.
Fünf Jahre Bürgerkrieg hatte das Land damals hinter sich. Schon diesem Schlachten war eine von sieben Millionen Kambodschanern zum Opfer gefallen. Der Frieden seither kostete im „Demokratischen Kamputschea" — so Kambodschas neuer Name — weit mehr als einer Million Menschen das Leben.
Kein Grund zur Aufregung, meint Khieu Samphan, einer der neuen Führer. Als er vor Monaten bei der Blockfreien-Konferenz in Colombo von westlichen Journalisten auf das Massensterben in seinem Land angesprochen wurde, wunderte er sich: „Es ist unglaublich, wie euch Westlern das Schicksal der Kriegsverbrecher am Herzen liegt."
Unglaublicher scheint indes, daß sich erst jetzt allmählich die grausige Wahrheit über das KZ Kambodscha enthüllt. Völlig abgeschlossen für die Außenwelt, fast ohne Kontakte selbst zu kommunistischen Staaten, unzugänglich für unabhängige Berichterstatter, brachten zunächst nur vereinzelte Berichte von Flüchtlingen Kunde über die Tragödie des kleinen Volkes in Indochina. Viele mochten das Gesagte nicht glauben, meinten, es müsse maßlos übertrieben sein.
 

Inzwischen gibt es Tausende Aussagen von Entkommenen, unverdächtige Zeugen und qualifizierte Aufzeichner. Kambodscha-Kenner wie der französische Priester Francois Ponchaud*, der zehn Jahre im Lande gelebt hatte, und die Reader's-Digest-Autoren John Barron und Anthony Paul** werteten sie in Büchern aus. Die vielen Mosaiksteine, die sie sammelten, formieren sich zu einem Grauens-Panorama: Um den Staat von Grund auf neu aufzubauen, muß, so die Khmer-Herren, alles Vorhandene rücksichtslos zerschlagen werden. Sie hielten sich an dieses Dogma wie keine Revolution vor ihnen.
Eine der ersten Taten nach der Machtübernahme war es, sämtliche Bibliotheken zu vernichten. Das einzige noch erlaubte Druck-Erzeugnis ist die vierseitige, alle zwei Wochen erscheinende Zeitung „Padevath" (Revolution).
Städte gelten den Roten Khmer als suspekt und überflüssig. Pnom Penh, einst eine der lieblichsten Großstädte Südostasiens, ist heute fast eine Geisterstadt, in den Außenbezirken schon überwuchert vom Dschungel. Noch 20 000 Khmer leben hier und einige verängstigte Diplomaten aus sozialistischen Ländern, denen es untersagt ist, ihre Botschaftsgebäude zu verlassen. Dreimal am Tag wird ihnen in einem

Jeep Verpflegung gebracht. Einzige Abwechslung ist ein gelegentlicher Wochenend-Flug nach Peking oder Hanoi.
Doch im Vergleich zu den Kambodschanern geht es den Diplomaten fürstlich. „Jeder", so hämmern die Roten Khmer dem Volk ein, „muß seinen Reis selbst anbauen."
Da dies in der Stadt nicht möglich ist, hatten sie den totalen Exodus aufs Land befohlen. An bestimmten Punkten der Nationalstraßen unterbrachen Kommandos den Elendszug, holten wahllos eine Gruppe von Menschen heraus und führten sie zu Plätzen, die sie zum Siedeln geeignet befanden.
Dort befahlen sie den einzelnen Familien, Hütten zu bauen. Verpflegung — ohnedies nur Reis und Salz— gab es lediglich für eine Übergangszeit. Wer da noch Fragen hatte, bekam die Standard-Antwort zu hören: „Angkar hat es befohlen."
Angkar heißt Organisation, was immer das sein mag. Angkar wird nicht definiert. Aber für die Kambodschaner wurde Angkar zum Inbegriff für Schicksal. Angkar bestimmt alles Angkar befiehlt Reisanbau, deportiert und erzieht die Menschen, läßt angebliche Verräter — dazu zählen auch unverheiratete Verliebte — und Unverbesserliche hinrichten.
Die gibt es wohl immer noch. Sie werden bei den allabendlichen Sitzungen des Dorfkomitees ermittelt. Da trat sich Ngy Duch einen spitzen Bambus-Splitter in den Fuß. Das Bein schwoll an. Er wagte, den Roten-Khmer-Aufseher darum zu bitten, sich ausruhen zu dürfen. Der lehnte ab.
Abends nahmen ihn sich die Komiteemitglieder vor. „Du darfst kein Muttersöhnchen sein", sagten sie. „Du darfst nicht faul sein." Ngy Duch gelobte, sich künftig emsiger für Angkar einzusetzen.


Ein- oder zweimal derart zu versagen, kann sich ein Kambodschaner eben noch erlauben. Beim dritten Mal wird er bestraft — mit dem Tode. Gefängnisse wurden abgeschafft. Sie sind unnötig, denn Angkar kennt nur die eine Strafe, und die wird auf der Stelle vollzogen.
In der neuen Gesellschaft, die sich die Roten Khmer heranziehen, haben Gebildete und ehemalige Soldaten oder Beamte des Lon-Nol-Regimes keinen Platz. Unter Vorwänden — etwa dem Aufruf, sich für besondere Aufgaben zur Verfügung zu stellen — wurden Techniker, Ingenieure, Ärzte, Studenten und Soldaten veranlaßt, sich zu melden. Meist endeten sie dann in Massengräbern.
Aus Kambodscha zu entkommen gelingt nur noch wenigen. Denn die Roten Khmer verminten fast alle Dschungelpfade, die nach Thailand führen. Flüchtlinge berichten von Bergen faulender Leichen, die überall im Grenzgebiet zu finden seien.
Das Dahinmorden ihrer Bevölkerung erklärt die Regierung mit Standardphrasen, deren Sprache vorzugsweise dem Agrarbereich entliehen ist. Etwa: „Es genügt nicht, eine schlechte Pflanze abzuschneiden, man muß sie mit der Wurzel ausreißen."
Das bedeutet nach Ansicht der Roten Khmer noch harte Arbeit Ein Funktionär meinte: „Es bedarf noch langer Zeit, die Guten von den Konterrevolutionären zu unterscheiden."
Den Ausleseprozeß werden die meisten wohl nicht überleben. Ein Khmer-Slogan weist auf die Endlösung: „Ein oder zwei Millionen junger Leute reichen völlig, um das neue Kamputschea aufzubauen"— ein Land, in dem, laut Artikel 13 der Roten-Khmer-Verfassung, „Harmonie und Glück herrschen".


* Francois Ponchaud: „Cambodge annee zero". Juillard, Paris 1977.
** John Barron, Anthony Paul: „Murder of a Gcntle Land". 1977 by Readers Digest. Ass. Tnc.