DER SPIEGEL 15-1978 (S. 150-154)


Ein „langer, langer Krieg"?
SPIEGEL-Korrespondent Tiziano Terzani an der vietnamesisch-kambodschanischen Grenze
Ha Tien, der Hafen am Südchinesischen Meer, ist eine Geisterstadt unter glühender Sonne. Türen und Fenster der Häuser sind geschlossen, die Rolläden der Geschäfte heruntergelassen.
Nirgendwo bewegt sich etwas. Die 30 000 Einwohner haben ihre Stadt verlassen.
Tinh Bien, weiter östlich, ist eine Ruinenstadt. Der Wind heult durch zerstörte Dächer, treibt alte Zeitungen vor sich her, die Häusermauern sind rußgeschwärzt. Auch Tinh Bien ist leer.
In Moc Hoa, nach Norden hin, sind ein paar hundert Menschen geblieben. Händler haben ihre Stände an zwei neu betonierte Bunker gelehnt. Um die Hütten von Bauern, die ihre Felder noch bestellen, heben Soldaten Schützengräben aus.
Die Straße zwischen den Orten zeigt ein Bild, das gespenstisch an eine überwunden geglaubte Vergangenheit erinnert: Flüchtlinge, die, mit schweren Körben beladen, Kleinkinder auf den Rücken gebunden, den Weg entlangstolpern. Gewimmer von Verwundeten. Menschentrauben um verstümmelte Leichen, stumm, ohnmächtig.


Grenzland zwischen zwei kommunistischen Nachbarn, Vietnam und Kambodscha. Vor noch nicht einmal einem halben Jahrzehnt haben Partisanen beider Länder unter dem roten Stern gegen einen gemeinsamen, übermächtigen Feind gekämpft, die USA. Sie haben gesiegt, und zumindest die ausgebluteten vietnamesischen Kommunisten haben daraufhin ihrem Volk „zehntausend Jahre Frieden" versprochen.
Aber schon nach Monaten wurde wieder geschossen, wieder gestorben. Ein dritter Indochina-Krieg ist ausgebrochen, der bisher unbegreiflichste. Sein Schlachtfeld liegt zwischen dem Südchinesischen Meer und dem annamitischen Bergland, entlang der 1100 Kilometer langen Grenze zwischen der hochgerüsteten 50-Millionen-Nation Vietnam und dem von mörderischen Steinzeit-Kommunisten tyrannisierten Sieben-Millionen-Volk der Kambodschaner.
Ein ungleicher Kampf, scheint es, und keine Frage, wie der Sieger heißen müßte. Und doch liegen die verlassenen Städte, die zerstörten Häuser, die verwüsteten Reisfelder auf der vietnamesischen Seite der Grenze, schlagen Granaten in grenznahen vietnamesischen Kreisstädten ein, sind die Vietnamesen entlang der gesamten Grenze ins Landesinnere evakuiert.
Dies nach drei großen Offensiven der vietnamesischen Armee, die bis 30 Kilometer tief ins Nachbarland eindrang und dort, wie ferner Geschützdonner trotz offizieller Dementis verrät, auch noch immer befestigte Basen unterhält.
Wie ist es möglich, daß die Kambodschaner dennoch immer wieder über die Grenze kommen, Dörfer überfallen und Einwohner massakrieren? Warum räumt die Armee des Generals Giap, die so mächtige Feinde wie Franzosen und Amerikaner niederkämpfte, nicht mit ein paar tausend fanatischen Khmer-Guerillas auf?
„Die Situation ist kompliziert, überaus kompliziert", antwortet General Tran Van Tra, der Eroberer Saigons, der jetzt die vietnamesischen Truppen an der bedrohten Grenze kommandiert. Weiteres deutet er nur an — und vielschichtig scheint die Lage an der Dschungelgrenze in der Tat:
Die Rollen in diesem dritten Indochina-Krieg sind vertauscht. Die Khmer-Partisanen spielen mit den Vietnamesen jetzt dasselbe Spiel, mit dem diese seinerzeit die Amerikaner mürbten: nächtliche Vorstöße durch unwegsamen Dschungel, blitzschnelle Überfälle und Massaker, rascher Rückzug, bevor überlegene Kräfte eintreffen.
„Es war dunkel. Plötzlich hörte ich Schreie. Ich wußte nicht, was los war, ich sah Menschen laufen und lief auch weg", erzählt eine junge Frau aus dem Weiler Ba Ly, fünf Kilometer außerhalb von Ha Tien, vier Kilometer vor der Grenze.
Nachts um drei hatten Rote Khmer das Dorf überfallen. Sie töteten die Dörfler mit Messern, Knüppeln und Stöcken.
Die Leichen liegen in einem Bananenhain, 21 Körper, zum Teil ohne Kopf, ohne Beine, Holzpflöcke im Unterleib, in der Brust, von Würmern und Fliegen bedeckt. Auf einem Feld daneben die aufgeblähten Überreste dreier Wasserbüffel.
Zwei Kilometer weiter eine Hütte mit sechs Leichen, davon drei kleine Kinder. Die Bäuche der Frauen sind aufgeschlitzt. Dem Haushund hieben die Angreifer den Kopf ab.
An der Wand der Hütte Parolen in Khmer-Schrift: „Das ist unser Land!"
Gebietsansprüche sind ein Grund für diesen grausamen Krieg. Kambodscha sieht weite Teile im Süden Vietnams als sein Territorium an, bis ans Meer hin, inklusive Saigon, heute Ho-Tschi-minh-Stadt, das als Gründung der Khmer einst Prei Kor hieß.
Kambodscha fürchtet aber vor allem eine Vorherrschaft Vietnams auf der ganzen indochinesischen Halbinsel, sieht in dem Verlangen Hanois nach dem Abschluß eines Vertrages über „spezielle Beziehungen" eine Kolonisierungs-Drohung des übermächtigen Nachbarn. Laos, das einem solchen Vertrag zustimmte, sei, so die Kambodschaner, schon eine Kolonie Hanois. In der Tat stehen im Staat der drei Millionen Laoten etwa 40 000 vietnamesische Soldaten.
Die Vietnamesen versuchten anfangs, die störrischen Nachbargenossen in Kambodscha mit Zugeständnissen zu ködern: Sie boten Verhandlungen über eine neue Grenzfestlegung an, und sie scheuten sogar, was bis heute strikt geheimgehalten wird, sogar vor Menschenopfern nicht zurück:
Zwischen April 1975 und April 1976, als das heutige Schlachtfeld noch „Grenze des Friedens und der Freundschaft" hieß, schickten die vietnamesischen Behörden Tausende kambodschanische Flüchtlinge gewaltsam in ihre Heimat zurück.
Pnom Penh hatte die Rücksendung seiner nach Vietnam geflohenen Bürger als Zeichen guten Willens der Regierung in Hanoi verlangt und versprochen, die Zwangs-Umsiedler gut zu behandeln.
Nur Kambodschaner mit vietnamesischen oder chinesischen Vorfahren durften in Vietnam bleiben. Die übrigen wurden mit Waffengewalt zusammengetrieben, auf Lastwagen geladen und trotz verzweifelter Gegenwehr den Khmer ausgeliefert.
Dort wurden, wie Überlebende berichten, die erneut flüchten konnten, alle Männer umgebracht.
„Meinem Mann haben sie mit einem roten Seil die Hände auf dem Rücken gefesselt, daran hängten die Kommunisten einen großen Stein", berichtete die 28jährige Mou Sok Ka, Mutter von drei Kindern. „Die Augen wurden ihm mit einem schwarzen Tuch verbunden. Dann mußte er mitten im Dorf niederknien. Mit Holzkeulen schlugen die Roten Khmer auf seinen Kopf und seinen Nacken ein, bis er keinen Laut mehr von sich gab."
„Ja, es ist wahr, wir haben die Flüchtlinge damals zurückgeschickt", bestätigt Tran Van Hieu, der Präsident des Revolutionskomitees von Moc Hoa. „Erst als wir hörten, daß die Kambodschaner alle Rückkehrer umbrachten, erlaubten wir den Flüchtlingen zu bleiben." Insgesamt haben die Vietnamesen so Tausende Kambodschaner dem Tod ausgeliefert.
Heute gibt es Tausende von Neuflüchtlingen in dem Gebiet. Im Dezember und Januar hatten die Vietnamesen mehrere Vorstöße ins Nachbarland unternommen. Als sie sich zurückzogen, ging die Bevölkerung fast geschlossen mit ihnen. Nun leben die Kambodschaner in primitiven Lagern, kaum versorgt, unterernährt, „aber wenigstens brauchen wir nicht jede Nacht zu fürchten, umgebracht zu werden", sagt eine Frau mit zwei kleinen Kindern.
Besser versorgt sind junge Männer, die aus Flüchtlingen und Gefangenen aussortiert wurden und nun in einem Lager bei Vi Thanh, auf dem Gelände eines früheren amerikanischen Militärflughafens, leben.
Sie sind einheitlich in grünen Drillich gekleidet, offenbar wohlgenährt. Obwohl niemand darüber spricht, ist offensichtlich, daß die Vietnamesen sie für den Kampf gegen ihre eigene Regierung ausbilden.
Insgesamt sollen etwa 15 000 bis 20 000 junge Kambodschaner für einen Partisanenkrieg in ihrer Heimat trainiert werden — obwohl die Vietnamesen bisher mit ihrer fünften Kolonne wenig Glück hatten:
Nach einem mißglückten Putschversuch in Pnom Penh rotteten die Roten Khmer alle Kader aus, die jemals zusammen mit Vietnamesen gekämpft oder überhaupt eine Verbindung zu diesen hatten. Selbst das Datum der Parteigründung (1951) wurde gelöscht. Die Kambodscha-KP gibt es seither offiziell erst seit 1960 — seit der derzeitige Khmer-Herrscher Pol Pot in der Partei, bestimmt.
 


Vietnamesische Gesprächspartner wirken oft ratlos, wenn man sie fragt, wie es an der Grenze weitergehen soll, warum die Armee nicht endlich mit den kambodschanischen Eindringlingen aufräumt, an vielen Stellen der Grenze gar nicht präsent ist.
„Wir können sie jederzeit vertreiben, aber es heißt immer, wir müßten warten", sagt der Vorsitzende des Revolutionskomitees von Moc Hoa, Tran Van Hieu.
Offenbar wollen die Vietnamesen, die dringend Hilfe vom Ausland brauchen, dokumentieren, daß sie Opfer einer Aggression und nicht etwa die Angreifer sind — selbst wenn diese Politik Tausende ihrer Landsleute das Leben kostet. „Nur deshalb erlauben sie den Kambodschanern die Übergriffe", meint ein kommunistischer Diplomat in Hanoi.
Ein Vormarsch nach Pnom Penh würde außer einem negativen Echo in der Welt wohl wenig einbringen: Die Roten Khmer haben, ihre Hauptstadt entvölkert und würden mit ihr weder etwas verlieren noch eine entscheidende Niederlage erleiden.
Ihr Volk und ihre Kader leben ohnedies im Dschungel.
Zudem würde ein ernsthafter Angriff auf Kambodscha, so fürchten die Vietnamesen, nur die Gefahr eines Konflikts mit dem übermächtigen Nachbarn im Norden heraufbeschwören. China unterstützt Kambodscha wohl vor allem, weil Vietnam immer mehr unter sowjetischen Einfluß gerät.
Jugoslawische Reporter, die jüngst als erste ausländische Journalisten nach Kambodscha durften, sichteten im Hafen Kompong Som einen chinesischen Frachter. Er brachte Mörser, Raketen, 130-mm-Geschütze; die Chinesen sollen den radikalen Verbündeten sogar einige MiGs geliefert haben.
Pekings Botschafter in Vientiane hat bereits prophezeit, daß es zwischen Vietnam und Kambodscha einen „langen, langen Krieg" geben würde, Krieg, der die kriegsmüden Vietnamesen auf absehbare Zeit daran hindern würde, die Früchte ihres Sieges über die Amerikaner zu genießen, denn er kostet nicht nur Menschenleben, nicht nur zerstörte Dörfer.
„Eine einzige Gewehrpatrone kostet soviel wie ein Kilo Reis, für den Preis einer einzigen 105-mm-Granate kann man eine ganze Familie zwei Jahre lang ernähren", rechnet ein vietnamesischer Offizier im Stützpunkt Long Xuyen vor. ♦
 


Auf Klagen steht der Tod
Berichte von kambodschanischen Flüchtlingen in Vietnam
Berichte über Massenmord und Terror im kommunistischen Kambodscha werden in ultralinken Publikationen zuweilen als in Thailand fabrizierte Flüchtlings-Erzählungen angezweifelt. SPIEGEL-Korrespondent Tiziano Terzani befragte nun in Vietnam Kambodschaner, die erst vor wenigen Wochen aus ihrer Heimat geflüchtet und noch nie mit einem Ausländer zusammengetroffen waren. Ihre Aussagen erhärten: Die Roten Khmer regieren mit brutalem Terror.
Ein alter Mann aus der Provinz Svay Rieng erzählt, sein Dorf sei bereits 1970 von den Roten Khmer übernommen worden. Die gesamte Ernte mußte abgeliefert werden; die Bauern bekamen von den Kommunisten eine Schale Reis pro Kopf und Tag zurück.
Wer aus Hunger etwas stahl, mußte sterben. "Meine beiden Neffen wurden mit gebundenen Händen und Füßen in den Dorfteich geworfen, weil sie ein paar Handvoll Maniok gestohlen hatten", berichtet ein Bauer aus dem Dorf Bentey Craung.
Todesstrafe stand aber auch auf Vergehen wie Nicht sofortiges Ausführen von Befehlen der „Angkar", der Parteiführung, sowie auf Klagen — etwa über Nahrungsmangel. Ausgeführt wurde sie durch Ertränken oder Totschlagen mit Holzknüppeln.
Auf kleinere Vergehen, wie Zuspätkommen zur Arbeit oder wenn bei der Feldarbeit eine Harke brach, gab es eine „erste Verwarnung": Die Missetäter wurden für ein oder zwei Wochen, an Fußblöcke gefesselt, in eine Gefängnishütte gesperrt. Bei einer zweiten Verwarnung ließen die Wächter sie verhungern.


Als die Roten Khmer im April 1975 im ganzen Land die Macht übernahmen, mußten alles Geld und alle Bücher verbrannt werden; Spiegel waren zu zerschlagen.
Tempel und Pagoden wurden zerstört. Aus den Trümmern ließen die Kommunisten Kommandogebäude oder Schulen bauen. Die Schüler erhielten nur zwei Stunden Unterricht am Tag. Die übrige Zeit mußten sie arbeiten wie die Erwachsenen.
Die tägliche Arbeit dauerte 12 bis 14 Stunden. Freie Tage gab es nicht. Einzige Ruhepause war die politische Schulung, die einmal wöchentlich nachmittags abgehalten wurde.
Persönlicher Besitz war auf ein Hemd, eine Hose und einen Kochtopf beschränkt. Mit 20 Jahren wurden die jungen Dörfler von Angkar verheiratet, immer wenn 20 zusammengekommen waren. Die Partner sucht Angkar aus.
Nach der Machtübernahme kamen Tausende vertriebener Städter in die Dörfer. Viele von ihnen wurden nachts aus ihren Hütten geholt und verschwanden für immer.