DER SPIEGEL 16-1980 (S. 166-167)


„Sie machten aus den Buddhas Feuerholz"
Die Tempelstadt Angkor Wat versinkt wieder im Dschungel
Einem Wald von Steinen gleich, mitten im Dschungel, liegen die Ruinen von Tempeln, Palästen und Hallen in einer weiten Ebene. Unerwartet, fast erschreckend überwältigt Angkor Wat den Besucher, der plötzlich vor diesem Weltwunder von Schönheit und Erhabenheit steht.
Hunderte stummer Augen von Statuen und monumentalen Götterfiguren blicken durch das blasse Blattwerk der Bäume, umringt von riesigen, aus Stein gemeißelten Tiergestalten: Fabelwesen und Elefanten, auf deren Rücken verwitterte Balustraden und steile Treppen ruhen. Darüber hegt Totenstille.
Einst lebten hier über eine Million Menschen. Damals, auf dem Höhepunkt ihrer Geschichte, zogen die Kambodschaner ungehindert durch das heutige Indochina und weit über dessen Grenzen hinaus. In der ganzen Region, selbst so weit weg wie das heutige Bangkok und das vietnamesische Nah Trang, errichteten sie Tempel, gründeten Orte wie Prei Kor, das spätere Saigon, heute Ho-Tschi-Minh-Stadt.

Tempelstadt Angkor Wat 1980: Opfer des Krieges

Ein chinesischer Reisender schilderte Angkor 1296 als eine riesige Stadt mit goldenen Türmen, goldenen Brücken, goldenen Löwen, die das Stadttor bewachten, eine Stadt mit Hunderten von Palästen, geschmückt mit gelbglasierten Ziegeln und Blei.


 


Die Blütezeit dieser Herrlichkeit dauerte etwa sechs Jahrhunderte. Dann, im Jahr 1431, belagerten Feinde aus dem Westen, die Siamesen, sieben Monate lang das goldene Angkor und eroberten die Stadt. Die Bevölkerung wurde niedergemacht, die Stadt geplündert. Die überlebenden Khmer flüchteten nach Süden und kehrten nie zurück. Angkor verschwand im Dschungel, wurde überwuchert und von seinen Erbauern vergessen.
Öfter im Laufe der Jahrhunderte sprachen Reisende von einer mythischen, einer verlorenen Stadt. Aber niemand glaubte ihnen, bis der französische Naturforscher Henri Mouhot, der sich 1861 einen Weg durch den Dschungel bahnte, plötzlich vor den Türmen der Geisterstadt stand.
„Wenn die Welt uns nicht hilft, wird Angkor erneut verlorengehen", klagt der heutige Kurator Pich Keo, der wie durch ein Wunder die Massaker des Pol-Pot-Regimes überlebte.
Denn die 1933 von den Franzosen begonnene Restaurierung wurde vor zehn Jahren wieder eingestellt. Die auf einem Areal von 80 Quadratkilometern verstreut liegenden 600 Tempel, Schreine und Paläste drohen erneut im Dschungel zu verschwinden.


Denn auch Angkor ist ein Opfer des Krieges. 1970, kurz nach dem Putsch des Generals Lon Nol gegen Staatspräsident Prinz Sihanouk, besetzten die Roten Khmer die Tempelstadt. Das Team der Aktion „Conservation d'Angkor" mußte abziehen.
Zwei Jahre später befahl Lon Nol, das weltbekannte Symbol nationaler Größe zurückzuerobern, aber der Versuch seiner Truppe scheiterte — Angkor Wat blieb rot.
Heute besuchen nur noch kleine Gruppen vietnamesischer Besatzungssoldaten die Stadt im Dschungel, die bis 1969 jährlich durchschnittlich 50 000 ausländische Touristen sahen; sie brachten Devisen und Spenden aus aller Welt.
Kambodschaner sind heute kaum zu sehen. Nur einige zerlumpte Gestalten, die im Schatten der Monumente Feuerholz oder eine harzige Flüssigkeit sammeln. Sie tropft aus den Kerben, die sie in die Rinde der riesigen Bäume geschnitzt haben. Gearbeitet wird in der Tempelstadt nicht.
1970 bestand die Truppe der „Conservation d'Angkor" aus 12 Archäologen und 800 Arbeitern. Heute verfügt Kurator Pich Keo nur über 30 Leute, mit diesem verlorenen Haufen kann er unmöglich dem Dschungel beikommen.
Überall dringen Pflanzen durch die Steinfugen, umranken die starken Wurzeln der Schlinggewächse die gemeißelten Götter und Tiere. In den Nischen sind Köpfe und Schultern der Statuen vom zersetzenden Dung der Fledermäuse entstellt.
Auf dem „oberen Gang" in Angkor Wat, dessen fünf Türme zum Symbol des Staatswappens des vietnamesisch beherrschten Kamputschea geworden sind (Pol Pots rote Fahne schmückten nur drei gelbe Türme), hegen Dutzende aus Holz geschnitzter Buddhas herum. „Vor meiner Flucht waren hier tausend solcher Buddhas aufgereiht. Die Roten Khmer haben aus ihnen Feuerholz gemacht", sagt der Kurator.
Aber nicht nur das: Viele Kambodschaner wissen, daß für Steintrümmer aus Angkor im Westen Tausende von Dollar gezahlt werden. Mancher aus den Flüchtlingsströmen konnte der Versuchung nicht widerstehen; einige Dutzend Köpfe und Hände aus den Basreliefs fehlen.
Die Franzosen hatten eine Seite des Ganges in Angkor Wat auseinandergenommen, um den Bau zu restaurieren. Jetzt liegen Hunderte von Steinquadern im wuchernden Gras. Die Mauern könnten nur mit großen Kränen wieder zusammengesetzt werden — aber Pich Keo hat keinen Kran.
Alle Dokumente, Studien und Zeichnungen sind verschwunden. Die meisten wurden verbrannt, andere von den Roten Khmer als Zigarettenpapier benutzt. So hütet Pich Keo einen kleinen, im Ausland gedruckten „Angkor-Führer", den ihm einer der seltenen Besucher überließ, wie ein Heiligtum.
Zur Restaurierung braucht er Werkzeuge, Maschinen, Experten, Geld und Reis, um mehr Arbeiter bezahlen zu können — und auch Sicherheit. In der Ferne hören wir sporadisch Geschützfeuer. Immer noch treiben sich hier versprengte Einheiten der Roten Khmer herum.
Angesichts der vom Pol-Pot-Regime hinterlassenen ungeheuren sozialen und wirtschaftlichen Schäden ist die Erhaltung Angkors für das neue Regime von Pnom Penn keine vorrangige Aufgabe.
Pich Keo über Angkor: „Unsere Vorfahren haben es vor tausend Jahren erbaut, und wir sind nicht einmal in der Lage, es zu erhalten."