DER SPIEGEL 2-1979 (S. 89-93)


Ganzer Fuß
Die Steinzeit-Kommunisten in Pnom Penh rufen die Welt zu Hilfe — gegen Vietnam, aber auch gegen eine heimische Befreiungsfront.

Das ungarische Regierungsblatt „Magyar Hirlap" hörte vorigen Mittwoch in Fernost das Büffelgras wachsen.
„Wahrscheinlich setzt sich das chinesisch-amerikanische Komplott, das sich während der amerikanischen Aggression in Indochina gegen Vietnam entwickelte, jetzt in neuer Besetzung fort, wobei China die aktive Rolle übernimmt, die früher die Vereinigten Staaten spielten" — so kommentierte die Budapester Zeitung die jüngste Offensive Vietnams gegen die feindlichen Nachbarn in Kamputschea, wie sich Kambodscha heute nennt.


So ungereimt die Rollenverteilung der Ungarn auch anmuten mag, wahr daran ist, daß sich mit dem diplomatischen Shakehands zwischen Chinesen und Amerikanern auch das Kräftespiel im seit fast zwei Jahren anhaltenden Indochina-Konflikt verschoben hat.
Denn nicht allein die beginnende Trockenzeit, mehr noch die momentane politische Großwetterlage haben es der Führung in Hanoi ratsam erscheinen lassen, in der Sturmstille den Grenzkrieg mit Kamputschea zu einem Ende in ihrem Sinne zu bringen.
Hanois Kalkül könnte aufgehen: China, das die barbarischen Machthaber von Pnom Penh um den rigiden Parteichef Pol Pot mit Rücksicht auf sein internationales Ansehen ohnehin nur noch halbherzig unterstützt, kann sich kurz nach seiner spektakulären West-Öffnung einen unverhüllten Waffengang gegen Vietnam nicht leisten.
Das um so weniger, als es zusätzlich in Gefahr gerät, damit seinem Erbfeind, der Sowjet-Union, einen Grund zu offenem Eingreifen zu liefern. Seit Moskau und Hanoi durch einen Anfang November unterzeichneten Freundschafts- und Bündnispakt auch offiziell Alliierte sind, ist ein solches Risiko erheblich größer geworden.
Hinzu kommt, daß beiden kommunistischen Großmächten an einem Konflikt, der im Dschungel des militärischen Zwerges Kamputschea ausgelöst wird, wenig gelegen sein kann. Noch weniger den USA, die vor aller Weltöffentlichkeit ausgerechnet für den kambodschanischen Steinzeit-Kommunismus Partei ergreifen müßten. Allen dreien, das wußte Hanoi nur zu genau, ist der Preis zu hoch.
Vietnam nutzt offenbar die Stunde: Soweit den sich widersprechenden Frontmeldungen aus Hanoi und Pnom Penh zu glauben ist, sind vietnamesische Verbände, unterstützt von Luftwaffe und schweren Waffen, weit in die östliche Grenzprovinz Kampong Tscham eingedrungen. Die Angreifer haben die Bezirkshauptstadt Krek (etwa 70 Kilometer von Pnom Penh entfernt) erobert und kontrollieren bereits beide Ufer des Mekong.
Nahziel der Offensive, so vermuten Militärexperten in Bangkok, ist neben dem Geländegewinn die strategisch bedeutsame Straße zwischen Pnom Penh und Kompong Som (früher: Sihanoukville), Kamputscheas wichtigstem Hafen, über den China seinen Verbündeten mit Waffen versorgt.
Die Regierung in Pnom Penh hat zwar den Fall der Stadt Krek zugegeben und in einem dramatischen Appell an Uno-Generalsekretär Waldheim und den Weltsicherheitsrat um Hilfe und internationale Intervention gegen den „räuberischen Überfall der Aggressoren aus Vietnam, der Sowjet-Union und dem Warschauer Pakt" ersucht.
Doch gleichzeitig meldete Pnom Penh — wie schon bei der Offensive vor einem Jahr — „glänzende Erfolge im heiligen Volkskrieg": 14 000 Gefallene auf vietnamesischer Seite, 84 zerstörte Panzer und zwei abgeschossene Flugzeuge.
Was Kamputschea hingegen verschweigt und Radio Hanoi um so nachhaltiger propagiert, ist das eigentlich Neue an diesem Dschungelkrieg: Wichtigstes Kontingent der vietnamesischen Invasionstruppen sind Kambodschaner, 20 000 bis 25 000 ehemalige Soldaten aus Kamputschea, die seit Beginn der Kämpfe übergelaufen oder in Gefangenschaft geraten waren.


In Beuteuniformen — made in USA — aus dem Vietnamkrieg gesteckt, sind die Deserteure bereit, für die Befreiung Kamputscheas gegen das Pol-Pot-Regime an der Seite der Vietnamesen zu kämpfen.
Gesammelt und ausgebildet wurden die Rebellen-Kader, die überwiegend aus ehemaligen Kämpfern der Befreiungsfront der Roten Khmer bestehen, schon seit Anfang des vorigen Jahres.
Ihre Anführer sind zwei kambodschanische Dissidenten, die im Frühjahr 1978 in der jetzt umkämpften Grenzprovinz Kompong Tscham vergeblich versucht haben, gegen die Machthaber in Pnom Penh zu putschen. Der Aufstand wurde verraten, mit einem Teil der Truppen gelang den Putschisten die Flucht nach Vietnam.
Militärischer Chef ist General Heng Samrin, 44. Er befehligte die IV. Division der Streitkräfte Kamputscheas und war gleichzeitig Vize-Generalstabschef der Militärzone Ost. Politisch gehörte General Heng in den Reihen der Roten Khmer zur „Hanoi-Gruppe", deren führende Köpfe bei den Säuberungen der zwei vergangenen Jahre hingerichtet wurden.
Der politische Kopf der Rebellen-Bewegung ist Chea Sim, 46, bis zum Aufstand Parteichef in der Militärzone Ost und einer der 250 Abgeordneten in der „Versammlung der Volksvertreter" Kamputscheas. Nach dem mißglückten Putsch meldete Radio Pnom Penh im Mai vorigen Jahres, er sei als „Agent des KGB" hingerichtet worden.
Am 3. Dezember, zu Beginn der vietnamesischen Offensive, gab Radio Hanoi die Gründung einer „Vereinigten Nationalen Front zur Rettung Kamputscheas", genannt: KNUFNS, in Snoul bekannt, einer kleinen kambodschanischen Stadt im Grenzgebiet, die als Umschlagplatz der umliegenden Gummiplantagen bekannt ist.
In einem Elf-Punkte-Programm proklamierte die Front ihre Ziele: Sturz des Regimes, Ende des Krieges gegen Vietnam, Wiederherstellung des Geld- und Marktsystems und Umwandlung Kamputscheas in ein „unabhängiges, demokratisches, neutrales und nicht paktgebundenes Land".
Kaum war die Gründungsmeldung verbreitet, beeilten sich die Regierungen von Hanoi, Moskau und Ost-Berlin, die Nationale Front als „einzige legitime Vertretung des kambodschanischen Volkes" anzuerkennen.
Vieles spricht dafür, daß es der Führung von Hanoi ähnlich wie im Krieg um Südvietnam gelungen ist, eine Gegenbewegung zu etablieren, die sie im Bedarfsfall politisch ins Spiel bringen kann. Somit wäre eine Besetzung Pnom Penhs oder großer Teile von Kamputschea durch vietnamesische Truppen überflüssig.
Die hektischen Versuche des kambodschanischen Parteichefs Pol Pot und des Staatschefs Khieu Samphan, durch eine radikale Änderung ihrer bisherigen Isolationspolitik Unterstützung im Ausland zu finden, kommen wohl zu spät.
Die überraschende Einladung an zwei amerikanische Journalisten und einen britischen Universitäts-Dozenten, das Land zu bereisen, endete Ende Dezember tragisch. Der Schotte Malcolm Caldwell, 47, überzeugter Maoist und Bewunderer Pol Pots, wurde in der Nacht zum 23. Dezember im Gästehaus der Regierung in Pnom Penh von Attentätern erschossen.
Die bestürzte Erklärung der Regierung, der Täter habe die Beziehungen Kamputscheas zum Westen sabotieren wollen, klingen glaubhaft. In 16 der 19 Provinzen von Kamputschea sind bereits Anhänger der Befreiungsfront aktiv — so meldete die Moskauer Auslands-Zeitschrift „Neue Zeit".
Auch die plötzlichen Bemühungen um westliche Touristen, die seit dem 1. Januar von Thailand aus auf einen Tagestrip die Tempelruinen von Angkor Vat besuchen können, dürften bald ein vorschnelles Ende haben. Die Nationalstraße, die von der Ostgrenze bis zur Tempelstadt führt, ist bereits in den Händen der Eindringlinge.
Kamputschea wünscht sich „normale und gute Beziehungen" zu den USA, versicherte Parteichef Pol Pot den beiden amerikanischen Journalisten, weil solche Beziehungen sich „in ihren Ergebnissen günstig auf China, die USA und die Welt auswirken" würden.
Die Führung in Peking sieht die neue Lage weitaus realistischer. Die im Umgang mit dem renitenten Nachbarn Vietnam erfahrenen Chinesen sind auf eine Amputation Kamputscheas vorbereitet. Wichtiger für sie ist, was danach passiert.
Die Parteizeitung „Jen Min Jih Bao" vom 25. Dezember warnte: „Wenn Hanoi, ermutigt durch die Unterstützung Moskaus, versuchen sollte, den ganzen Fuß zu nehmen, nachdem es einen Zeh bekommen hat, und wenn es fortfährt, sich unverschämt zu verhalten, dann wird es entschieden die Bestrafung erhalten, die es verdient."