DER SPIEGEL 20-1975 (S. 89-91)


Blut getauscht
Das Lon-Nol-Regime kapitulierte nicht vor den Roten Khmer, sondern vor 700 Studenten. Zwei Millionen Bewohner der Hauptstadt wurden ausgesiedelt. Es gab Erschießungen, aber kein Blutbad.
Morgens um 5.38 Uhr meldete sich die Stimme der Revolution erstmals aus der Hauptstadt Pnom Penh und befahl dem „Oberkommando der nationalen Streitkräfte, vorläufig die Waffen niederzulegen".
Die Vertreter aller Gruppen und Parteien wurden eingeladen, sich im Informationsministerium zu treffen, „damit alle Bürger eure Stimmen über Rundfunk hören können". Und: Alle Einwohner, „insbesondere alle Intellektuellen, müssen sich ruhig verhalten".
Die freundliche Einladung am 17. April kam nicht von einem Partisanen der „Roten Khmer", sondern von einem parteilosen Intellektuellen: Hem Keth Dara, 29, Sohn eines Innenministers der Lon-Nol-Regierung, früher Student der Landwirtschaft in Paris, verheiratet mit einer Französin.
Am Morgen hatten er und 200 Studenten der Pnom-Penh-Universität sich den schwarzen Kampfanzug der Roten Khmer angezogen und aus eigenem Antrieb das Informationsministerium gestürmt. Sie bemächtigten sich der Mikrophone des Staatsrundfunks, um — so Keth Dara — „Prinz Sihanouk einen Gefallen zu tun".
Bis zum Mittag hatte die Studenten-Garde, die sich „Front du mouvement nationaliste" (Monatio) nennt, weite Teile der Innenstadt besetzt; die Reste der Lon-Nol-Armee, die sich im Regierungsviertel verschanzt hatten, ergaben sich kampflos den Schwarzhemden.
Den Kampfeinheiten der Roten Khmer, die noch am Stadtrand standen, begründete der ungebetene Helfer Keth Dara per Radio seinen Handstreich so: „Ich habe Maßnahmen ergriffen, um es unseren außerhalb Pnom Penh wartenden älteren Brüdern zu ermöglichen, leicht in die Stadt zu gelangen, ohne daß Unschuldige getötet werden oder Schaden erleiden."
Ex-Premier Long Boret, der einzige aus der Lon-Nol-Führung, der sich den Roten ergab, erfuhr erst beim Kapitulations-Zeremoniell der echten Roten Khmer am nächsten Tag, daß sich fast 30 000 Mann seiner Elitetruppe verkleideten Studenten ergeben hatten.

* Vor dem Informations-Ministerium


Boret: „Ich verstehe überhaupt nichts mehr."
Boret und mit ihm der Ex-Premier Sirik Matak, den die Roten Khmer aus der Französischen Botschaft holten — beide als „Kriegsverbrecher" schon vor Monaten von Sihanouk zum Tode verurteilt —, wurden im Sportstadion erschossen, berichtete der ehemalige Chef Chirurg des Hospitals „Calmette", Bernard Piquart, aus Pnom Penh. Der US-Geheimdienst CIA will zudem aus abgehörten Funksprüchen der Roten Khmer die Befehle zu Massenerschießungen von Lon-Nol-Anhängern entschlüsselt haben. „Achtzig bis neunzig Offiziere bis herunter zum Leutnant" seien samt ihren Frauen beim Einmarsch der Roten in Pnom Penh exekutiert worden, klagte US-Präsident Ford dem Kongreß und Außenminister Kissinger der Presse.
Andere CIA-Meldungen, gestützt auf Flüchtlings-Aussagen, sprachen von „reihenweisen Enthauptungen". Das US-Magazin „Newsweek" meldete die „Erschießung von Zehntausenden Lon-Nol-treuer Kambodschaner", die Londoner „Times" kam zu dem Schluß: „Es besteht kein Zweifel mehr, daß in Kambodscha grausame, unangenehme Dinge geschehen."
Der zwei Wochen lang in Pnom Penh festgehaltene ARD-Reporter Christoph Maria Fröhder berichtete dagegen dem SPIEGEL: „Auch wir haben von den Gerüchten gehört. Ich bin zweimal an den Ort von angeblichen Exekutionen gefahren, habe aber weder Zeugen noch Spuren gefunden. Ein solches Vorgehen würde auch völlig dem von uns erfahrenen Stil der Roten Khmer widersprechen."
Der Korrespondent der Pariser Zeitung „Le Monde": „Weder in Pnom Penh noch auf unserer 450 Kilometer langen Fahrt zur thailändischen Grenze habe ich, trotz vieler Gerüchte, einen einzigen Beweis für Erschießungen oder Hinrichtungen finden können. Immer waren es Zeugen, die es nur vom Hörensagen wußten. Nach meinem Eindruck passen Hinrichtungen auch nicht in das Bild der Umerziehung."
Die „Umerziehung": In einem erzwungenen Massen-Exodus wurde die auf über zwei Millionen Menschen angewachsene Bevölkerung der Hauptstadt in wenigen Tagen auf die brachliegenden Reisfelder der Provinzen umgesiedelt.
Schon wenige Stunden nach der Besetzung der Stadt forderten die kampflosen Sieger über Lautsprecher die Bevölkerung auf: „Laßt alles liegen und geht!" Soldaten eskortierten auch Kinder, Gebrechliche und Greise auf die Dörfer.
Selbst Krankenhäuser mußten in wenigen Minuten geräumt werden; Schwerkranke und Sterbende wurden auf Bahren weggeschafft. Wer sich dem Räumungsbefehl widersetzte, soll — so Augenzeugen — erschossen worden sein.


Der Reporter der „New York Times", Sydney Schanberg, auch er Augenzeuge: „Millionen Menschen verließen die Stadt in beklemmender Stille — zu Fuß, auf Fahrrädern oder mit Autos, die sie schieben mußten, weil ihnen das Benzin ausgegangen war. Gebeugt unter ihren Säcken mit den letzten Habseligkeiten, die sie eilig zusammengerafft hatten, überzogen sie die Straßen wie ein Teppich von Menschen."
Es folgte Gewalt gegen Sachen: Die Roten-Khmer-Soldaten räumten westliche Gebrauchsgüter wie Klimaanlagen, Eisschränke und elektrische Küchenherde aus den leeren Wohnungen und türmten den „Luxus" zu riesigen Schutthalden auf; Uhren und Transistor-Radios steckten die Soldaten, von denen die meisten jünger als zwanzig Jahre alt waren, selbst ein.
Tausende von Neubürgern im schwarzen Dress — bereits umerzogen — wurden in die leeren Wohnungen eingewiesen: Sympathisanten der Roten Khmer, die nun die Zentrale intakt halten sollen. Viele waren nach dem Sturz Sihanouks aus Pnom Penh geflüchtet und kehrten nun zurück.
Den erzwungenen Bevölkerungswechsel, den die französische Radiostation RTL mit einem „Blutaustausch" verglich, erläuterten die Roten Khmer so: Die vom verräterischen Lon-Nol-Regime vergiftete „Stadt-Bourgeoisie" müsse bei Arbeit auf dem Feld oder auf dem Fischerboot gesunden. Später, in ein paar Monaten, können sie aus den Landkommunen in die Stadt zurückkehren, „wenn sie noch wollen". ♦