DER SPIEGEL 3-1979 (S. 86 - 92)
„Den Vietnamesen fehlt
es an Lebensraum"
Streit unter Kommunisten gab es schon genug — regelrechten Krieg eines
kommunistischen Staates gegen einen anderen jedoch noch nicht. Unter dem Beifall
der Sowjet-Union machte die Militärmacht Vietnam dem Regime der
Steinzeit-Kommunisten in Kambodscha ein Ende, Jetzt fürchten die Nachbarn ein
Groß-Indochina.
Einer hatte das Unglück schon immer
kommen sehen:
„Wir sind wie Kätzchen angesichts des vietnamesischen Löwen. Doch ... über das
Haupt des Löwen hinweg wird das kambodschanische Kätzchen den Blick auf den
chinesischen Drachen richten" — so Norodom Siha-nouk im Jahr 1971 zu seinem
Biographen Jean Lacouture.
Als der Prinz, einst abgedankter Gott-König, dann als Staatschef eines neutralen
Kambodscha durch Putsch ins chinesische Exil vertrieben, am vorletzten Samstag
zum zweiten Mal in Peking um Asyl bat, da spie der Drache kein Feuer.
Chinas Reformer Teng Hsiao-ping klopfte dem vertrauten Gast mitfühlend die
Schulter, rief die Welt zur „moralischen Unterstützung" auf und gab dem Prinzen
die langentbehrte Gelegenheit, auf einer sechsstündigen Pressekonferenz seiner
Lieblingsbeschäftigung nachzugehen: bewegt zu reden.
Konkret aber konnte Pekings Führung, genauso wie die übrige Welt, nur zur
Kenntnis nehmen, daß es dem Löwen von Vietnam gelungen war, das kambodschanische
Kätzchen in seine Gewalt zu bringen, und daß es nun allein von ihm abhängt, ob
und wann er es auch fressen will.
Zum erstenmal in der Geschichte führte ein Staat, der sich sozialistisch nennt,
gegen einen anderen Staat, der sich sozialistisch nennt, einen offenen Krieg und
stürzte durch ihn eine Regierung, die von der sozialistischen Großmacht China
unterstützt wird.
Und der Gralshüter der kommunistischen Lehre, die Sowjet-Union, mit dem
Aggressor durch einen Freundschafts- und Beistandspakt verbunden, nennt den Coup
„eine Befreiung", die er „heiß begrüßt", so die „Komsomolskaja prawda".
Allein der Poltergeist im sozialistischen Lager, Rumänien, machte der einen wie
der anderen Seite klar, dieses völkerrechtliche Piratenstück sei ein „Schlag
gegen das Prestige des Sozialismus".
Das war es wohl auf jeden Fall. Doch die Macht, das Geschehene zu revidieren,
hätte auch späte Einsicht nicht mehr. Denn fast zur gleichen Stunde, als Prinz
Sihanouk im fernen Peking die Welt um Hilfe gegen Vietnam anflehte, holten in
der eroberten Hauptstadt Pnom Penh die Angreifer die Flagge der Volksrepublik
Kamputschea mit dem Balkenkreuz nieder und tauschten sie gegen eine neue aus:
fünf goldene Türme der Tempelstadt Angkor Wat auf rotem Grund.
In einem Blitzkrieg von nur 14 Tagen hatte eine 14 Divisionen starke
Invasionsarmee, rund 100 000 vietnamesische Soldaten, die
Verteidigungs-Stellungen des kambodschanischen Pol-Pot-Regimes mit Unterstützung
starker Panzer- und Luftwaffen-Verbände überrannt.
Die Teilnahme einer rund 20000 Mann starken kambodschanischen Rebellenarmee, aus
Überläufern und Kriegsgefangenen in Vietnam gebildet, hatte dabei mehr
politische als militärische Bedeutung. Die neuen Herren von Kamputschea, so
konnte Hanoi aller Welt präsentieren, sind Kambodschaner — freilich, diesmal
gute Freunde der Vietnamesen.
Ob die Macht der Statthalter, die sich „Vereinigte Nationale Front Kamputscheas
zur nationalen Rettung" (KNUFNS) nennt, auch von Dauer ist, ob ihr
Alternativ-Programm eines „neutralen Sozialismus" im eigenen Land und außerhalb
der Grenzen Unterstützung findet, steht noch dahin.
Noch fragwürdiger aber ist, ob Reste der geschlagenen Armee — zusammen mit
mindestens ein paar Tausend chinesischer Militärberater — den Kampf als Guerilla
weiterführen können. Denn auch das Schicksal der geflüchteten Führung um Pol Pot
ist bislang ungewiß.
Prinz Sihanouk hält dem Mann, der ihn vor fast vier Jahren zur politischen
Geisel machte, auf merkwürdige Art die Treue. Er glaubt Pol Pot als
Guerillakämpfer im Dschungel.
Aber aus Pnom Penh vertriebene Diplomaten haben berichtet, daß drei Stunden vor
dem Fall der Stadt eine chinesische Sondermaschine „über hundert Passagiere"
ausgeflogen hat, zu denen nicht einmal der chinesische Botschafter Sun Hao
gehörte. Kamputscheas Ex-Staatspräsident Khieu Samphan und Pol Pots Schwager und
engster Vertrauter, der gestürzte Außenminister Ieng Sary, sind via Thailand
inzwischen in Peking aufgetaucht.
So klingt die Versicherung Sihanouks, „wir werden bis zum Ende kämpfen, wir
werden nicht kapitulieren", mehr wie ein Nekrolog — und das nicht nur für
chinesische Ohren.
US-Präsident Jimmy Carter, auf dem Insel-Gipfel von Guadeloupe beim Fischen von
der Nachricht über den Fall Pnom Penhs überrascht, fand für den weltpolitisch
bedeutsamen Vorgang weit weniger Worte als über seine Angelbeute, zwei
Barrakudas.
Ein Regierungssprecher in Washington verurteilte die Invasion der Vietnamesen
zwar als „Bedrohung des Friedens und der Stabilität der Region", zugleich aber
ließ der Uno-Botschafter der USA, Andrew Young, vernehmen, er sehe zumindest
eine gewisse moralische Rechtfertigung für den vietnamesischen Übergriff „in
einem Land wie Kambodscha, das so viele eigene Bürger unter grober Mißachtung
der grundlegenden Menschenrechte umgebracht hat".
US-Generäle im Pentagon, vor allem die Veteranen aus dem Vietnamkrieg, sprachen
voll Bewunderung von der vietnamesischen Taktik und Strategie eines
„Autobahn-Kriegs". „Sie sind vorgegangen, wie wir es hätten tun sollen."
Japan kündigte an, es werde die Hanoi versprochene Hilfe im Wert von 70
Millionen Dollar zurückziehen, Holland will mit seiner Entwicklungshilfe
gleiches tun. Alle, die durch die unerwartete Westöffnung Chinas gegenüber dem
Chinafeind Vietnam in eine prekäre Lage geraten waren, sind nun froh, auf so
bequeme Art für das lukrativere China Partei ergreifen zu können.
Kein Zweifel: Für das militärische Abenteuer hatte die Führung in Hanoi die
Stunde klug gewählt. Sie wußte, daß weder das um Ausgleich und Öffnung bemühte
China unter Hua Kuo-feng und Teng Hsiao-ping noch Amerika, das sich immer noch
von seinem Asien-Trauma erholt, und erst recht nicht die Sowjet-Union, die außer
Vietnam in Asien kaum noch Freunde hat, ihr in die Zügel fallen würde.
Kein ausländischer Staat, so das berechtigte Kalkül von Hanoi, würde sich für
das selbstisolierte und verrufene Regime in Pnom Penh ernsthaft einsetzen. Doch
nicht im Dschungel, sondern im machtpolitischen Kräftespiel muß sich erweisen,
ob der Blitzkrieg der Vietnamesen gegen die Nachbarn nicht am Ende ein
Pyrrhus-Sieg war, militärisch gewonnen, aber politisch verloren.
Denn die Furcht, vor allem der asiatischen Nachbarn, beim Einmarsch in Saigon
noch von der Bewunderung über den Erfolg des asiatischen Zwerges über das
allmächtige Amerika verdeckt, gilt nun eindeutig dem Gespenst eines aggressiven,
politisch nicht mehr kalkulierbaren Groß-Indochina, beherrscht von Hanoi.
Der Haß zwischen den Nachbarn auf der Halbinsel im Südchinesischen Meer ist
uralt. Die vom Hinduismus beeinflußten Khmer-Stämme und das aus Mittelchina
abgedrängte Viet-Volk mit der konfuzianischen Kultur Chinas stießen aufeinander.
Vom 9. bis zum 13. Jahrhundert waren es die mächtigen Khmer-Könige von Angkor,
die weite Teile des heutigen Laos und Südvietnam bis an die Grenze Malaysias
eroberten und grausam beherrschten.
Mit dem Blut aus ihren aufgeschnittenen Händen schworen die Vasallen des
Gottkönigs Surjavarman I. an der Säule im Königspalast: „Wir werden keinen
anderen König dulden, wir werden nicht Komplizen sein irgendeines Feindes.
Sollten wir diesen Eid brechen, mögen wir in der 32. Hölle wiedergeboren werden,
dort schmachten, solange es Sonne und Mond gibt..."
Doch das Königreich von Angkor zerfiel. Um sich gegen die räuberischen Nachbarn
zu schützen, stellten sich schon im 15. Jahrhundert die Khmer-Könige unter den
Tributschutz der chinesischen Ming- und Tsching-Dynastien: Unterstützung aus
Peking hat in Kambodscha Tradition.
Vor der endgültigen Aufteilung zwischen dem Königreich Siam (heute Thailand) und
dem Kaiserreich Annam (heute Vietnam) bewahrte die Khmer schließlich die
europäische Großmacht Frankreich. Aus Kambodscha, Laos, dem überwiegend von
Kambodschanern bewohnten Kotschinchina sowie den vietnamesischen Reichen Annam
und Tonkin puzzelte sich die Schutzmacht Frankreich in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts ihre Überseekolonie Indochina zusammen (siehe Karte).
So war es im antikolonialistischen Kampf nur natürlich, daß die Völker
Indochinas gegen den gemeinsamen Feind zunächst gemeinsam vorgingen. Als Ho
Tschi-minh im Jahr 1930 die Untergrund-KP gründete, nannte er sie die
„Indochinesische Kommunistische Partei". Erklärtes Ziel: „Die völlige
Unabhängigkeit Indochinas."
Mißtrauen, vor allem der laotischen und kambodschanischen Genossen, wurde erst
nach dem Zweiten Weltkrieg laut. Aber die militärischen Erfolge der Vietnamesen
im ersten Indochina-Krieg, gekrönt durch den Sieg von General Giap über die
französische Dschungelfestung Dien Bien Phu 1954, überdeckten noch die
nationalen Gegensätze auf der Halbinsel.
Immerhin waren die nationalen Spannungen inzwischen so stark, daß Chinas Premier
Tschou En-lai auf der Konferenz der Blockfreien 1955 in Bandung den Vertreter
Hanois, Premier Pham Van Dong, zu einer ausdrücklichen Anerkennung der
territorialen Integrität Kambodschas zwingen mußte.
Vietnam akzeptierte, wenn auch widerwillig. Denn nicht die Sowjet-Union, sondern
das junge China galt der Führungsgruppe in Hanoi damals als großes Vorbild. Der
von Vietnam propagierten „revolutionären Gewalttätigkeit" stand Moskaus
Bedürfnis nach Koexistenz im Wege.
Noch 1963 erklärte der vietnamesische Chefideologe Le Duan: So wie Lenin damals
sagte, die sowjetische revolutionäre Strategie sei das Vorbild für alle
Kommunisten in der Welt, können wir heutzutage sagen, daß die chinesische
revolutionäre Strategie das Vorbild für die Strategie der kommunistischen
Parteien in Asien, Afrika und Lateinamerika ist.
Noch einmal gelang es Tschou En-lai, seine Autorität durchzusetzen. Als Sihanouk
nach dem von Washington gesteuerten Putsch rechter Generale Asyl in Peking fand
— Hanoi hatte die Aufnahme verweigert, um nicht als „Tanzmeister" Kambodschas zu
erscheinen —, brachte er die Führer der vier Kampffronten (Nord- und Südvietnam,
Kambodscha und Laos) in einem Vorort von Kanton im April 1970 zu einer
Geheimkonferenz zusammen.
Einziges Thema: eine Indochina-Regelung nach dem Sieg, die es allen Beteiligten
gestatten sollte, ihre Selbständigkeit zu wahren. Ziel waren ein
wiedervereinigtes Vietnam und zwei souveräne Staaten Laos und Kambodscha,
sozialistische Nachbarn in einer sozialistischen Völkerfamilie — was sicherlich
auch der chinesischen Regionalpolitik entgegenkam, kein zu mächtiges Vietnam an
seiner Südflanke zu haben.
Der „Geist von Kanton", so erinnert sich Sihanouk, wurde damals mit chinesischem
Sekt begossen — fünf Jahre später, als Saigon an die Vietcong und Pnom Penh an
die Roten Khmer fielen, war er verflogen.
Denn kaum hatten die Guerilla-Soldaten der Roten Khmer mit Waffenhilfe Hanois
dem Regime des Generals Lon Nol in Pnom Penh den Garaus gemacht, da mußten 60
000 Vietnamesen, die meisten schon seit Generationen in Kambodscha ansässig, das
Land verlassen.
Zwei Monate später besetzten Kommandos der Vietnamesen die kambodschanische
Insel Wai im Golf von Siam und kämpften die kambodschanische Besatzung nieder.
Verbände der Roten Khmer verwüsteten vietnamesische Dörfer an der Grenze der
nordöstlichen Provinz Rattanakiri.
Der Grenzkrieg zwischen den kommunistischen Nachbarn, barbarisch geführt, begann
schon in der Stunde Null und kostete Zehntausende von Zivilisten, auch Frauen
und Kindern, das Leben. Neben nie klar formulierten Territorial-Ansprüchen
beider Seiten — Vietnam vermutet Ölvorkommen im Schelfgebiet des Golfs von Siam,
Kambodscha Erzvorkommen an der Nordost-Grenze —, schlug der uralte Haß, den
beide Völker gegeneinander hegen, nun wieder durch die Tünche der ideologischen
Waffenbrüderschaft.
Wer die nächtlichen Überfälle zuerst begann und wer das Morden an der Grenze
schließlich zum Krieg eskalierte, wird mit absoluter Sicherheit nie mehr
festzustellen sein; im Dschungel überlebten nur wenige Zeugen.
Sicher aber ist, daß das unterschiedliche nationale Selbstverständnis des
sozialistischen Kamputschea und des sozialistischen Vietnam mit dazu beitrugen,
den Haß auf den Nachbarn zu schüren.
Für die Vietnamesen war die jüngste Geschichte, der in 30 Jahren allein
errungene Sieg über die Großmächte Frankreich und USA, Stimulans, sich der
restlichen Welt überlegen zu fühlen.
Schon 1972 hatte Premier Pham Van Dong
erklärt, Vietnam werde seine revolutionäre Mission durch ganz Asien tragen. So
war die künftige Kontrolle über den im Krieg berühmt gewordenen „Ho-Tschi-minh-Pfad",
der in weiten Teilen durch laotisches und kambodschanisches Territorium führt,
für Hanoi eine Selbstverständlichkeit, ein Rückzug nach dem Krieg geradezu
ausgeschlossen.
Die militärische Präsenz der Vietnamesen in Laos — Überbleibsel aus dem Krieg —
wurde nicht in Frage gestellt, sondern sogar noch ausgebaut. Selbst wenn die
Pathet Lao gewollt hätten, wären sie zu schwach gewesen, sich gegen die
benachbarte Militär-Großmacht zu wehren.
Doch Hanois Pläne gingen weiter: Im Dezember 1975 setzten die Vietnamesen den
58jährigen Kayson Phom-vihan als Premier und Generalsekretär der Patriotischen
Front von Laos durch. Im Volk wird er „der Vietnamese" genannt.
In der Tat ist der mächtigste Mann des heutigen Laos Sohn eines vietnamesischen
Beamten aus der Zeit der französischen Kolonialherrschaft. Seinen Namen gab ihm
kein Geringerer als der vietnamesische Nationalheld General Giap: „Cai Son"
(vietnamesisch: „Gefreiter Son").
Der Gefreite gehorchte und schloß 1977 zwischen Laos und Vietnam einen „Vertrag
über die speziellen Beziehungen", Modell für eine Assoziation, die sich Hanoi
vergeblich auch mit Kambodscha wünschte. Dafür operieren heute 60 000 Mann
vietnamesische Truppen im laotischen Bergland, um die kommunistische
Zentralgewalt vor den aufständischen Meo-Völkern zu schützen.
In Kambodscha war es für Hanoi viel schwerer, seinen Hegemonie-Anspruch
durchzusetzen. Das hing mit der gegenseitigen Erbfeindschaft zusammen, wie auch
mit der Tatsache, daß die nach Vietnam orientierten Kader des siegreichen Roten
Khmer stets in der Minderheit waren.
Die Männer, die sich durchsetzten, wie Khieu Samphan, der spätere
Staatspräsident, oder Außenminister Ieng Sary, beide jetzt erst 47 Jahre alt,
waren nie durch die harte Schule einer Kader-Partei im Untergrund gegangen. Der
kambodschanische Flügel der Indochina-KP war ihnen zu „fremdländisch", wie Khieu
Samphan erzählte, das heißt: zu vietnamesisch.
Ihre revolutionären Ideen entwickelten die kambodschanischen Roten in den frühen
50er Jahren als Gaststudenten an der Pariser Universität in den Bistros und
Cafes des linken Seine-Ufers. Auch Pol Pot, der wahrscheinlich damals noch
Saloth Sar hieß und dreimal an der „Ecole Francaise de Radio-Electricite" durch
die Prüfung fiel, gehörte zu der Clique kambodschanischer Polit-Chaoten im
Pariser Exil.
Als verbale Jakobiner kehrten sie in das neutralistische Kambodscha des Prinzen
Sihanouk zurück, entschlossen, für das kommunistische Utopia eines von aller
Welt unabhängigen Kamputschea zu kämpfen.
Von Marx und Lenin und den kommunistischen Klassikern wußten sie wenig, mehr
schon über Maos Langen Marsch und die Guerilla-Taktik des Che Guevara. Dieses
Konglomerat von Weltverbesserungs-Ideen und der Traum vom alten Khmer-Reich aus
der Angkor-Zeit wuchsen sich zur Ideologie eines unmenschlichen Experiments mit
Menschen aus.
Denn aus den rigiden Denkspielen der Kaffeehaus-Runden wurde plötzlich
Wirklichkeit. Die Rote Khmer, bis Sihanouks Sturz eine höchstens 3000 Mann
starke Guerilla, schwoll nach 1970 durch ländliche Sihanouk-Anhänger auf eine
über 50 000 Mann starke Streitmacht an. Bauern verhalfen den Roten zum Sieg.
Den erzwungenen Exodus von über zwei Millionen Bewohnern Phnom Penhs, gleich
nach dem Sieg dekretiert, hatte Khieu Samphan schon in seiner Pariser
Doktorarbeit als revolutionäre Notwendigkeit vorausgesehen: Nur knapp fünf
Prozent der Hauptstädter waren danach Industriearbeiter, die überwältigende
Mehrheit arbeitete im Dienstleistungsgewerbe und war demnach „unproduktiv".
Die primitive Feldarbeit mit Hacke und Schaufel, die Karl Marx den „Idiotismus
des Landlebens" nannte, wurde nach Befehl der neuen Herren von Kamputschea zum
Maß aller Dinge.
Ähnlich wie einst Castro und Guevara auf Kuba fast mystisch daran glaubten,
Rekordernten einer Monokultur könnten das Land aus Abhängigkeit und
Rückständigkeit befreien, hetzten Kamputscheas Führer alle Menschen, vom Kind
bis zum Greis, auf die Felder. War es auf Kuba die Zuckerrohr-Schlacht, so hieß
der Befehl für die Kambodschaner: „Pflanzen, pflanzen und nochmals pflanzen,
unter vorrangiger Berücksichtigung der Reisernte."
Der Mensch war zum willenlosen Handwerkszeug degradiert; wo und wann er essen,
schlafen, ja sogar lieben durfte, bestimmte die Partei, das Geld wurde
abgeschafft, ein Steinzeit-Kommunismus, wie ihn die Welt noch nie gesehen hatte,
brach an.
Durch Flüchtlingsberichte drang die Kunde von unbeschreiblichen Greueln aus dem
total isolierten Land in die Weltöffentlichkeit, die im Westen anfangs als
antikommunistische Propagandalügen galten. Heute ist längst sicher: Die Morde
wurden von der Führung in Pnom Penh gedeckt, wenn nicht gar befohlen.
Nach bisherigen Schätzungen fielen mehrere hunderttausend bis zu über eine
Million Menschen, erschlagen, erschossen, an Hunger und Erschöpfung oder an
Seuchen gestorben, der Barbarei der neuen politischen Führung zum Opfer.
Das alles mag unter dem nun installierten System des Vietnam-freundlichen
Generals Heng Samrin, 44, und des ehemaligen Parteichefs in der
kambodschanischen Militärzone Ost, Tschea Sim, 46, anders werden. Beide waren
nach einem mißglückten Putschversuch gegen das Pol-Pot-Regime im Mai vorigen
Jahres nach Vietnam geflüchtet.
Nach dem bisher vorgelegten Programm der KNUFNS kann jeder Kambodschaner in
seine alte Heimat zurückkehren und dort eine Familie gründen, Versammlungs- und
Religionsfreiheit sind versprochen.
Anstelle der Zwangslager sollen Bauern-Genossenschaften gegründet, alle Banken
wieder geöffnet, das Geld- und Lohnsystem wieder eingeführt werden.
Mit den Peinigern des Volkes will die Rettungs-Front gnadenlos abrechnen,
diejenigen, die sich als Diener des alten Regimes nichts zuschulden kommen
ließen, sollen Generalpardon erhalten.
In ihrer Außenpolitik will die neue Regierung strikte Neutralität „gegenüber
allen Ländern ohne Unterschied ihres politischen und sozialen Systems" wahren
und keinem Militärbündnis beitreten.
Das freilich war in der vietnamesischen Armeezeitung „Quan Doi Nhan Dan" nach
dem dritten großen Sieg etwas anders zu lesen:
Von jetzt an werden die drei brüderlichen Nationen der indochinesischen
Halbinsel, Vietnam, Laos und Kambodscha, sich miteinander vereinen. Die starke
Solidarität stellt eine Kraft dar, die keine Macht mehr zerstören kann. Sie ist
ein besonders wichtiger Faktor, um die drei brüderlichen Nationen zu immer neuen
Siegen zu führen.
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Das ist, den Autor beim Wort genommen, eine neue vietnamesische
Breschnew-Doktrin: begrenzte Souveränität. Neben großvietnamesischer
Machtpolitik hatte Hanoi noch weitere Gründe, den nun schon seit fast vier
Jahren andauernden Streit mit Kamputschea zu einem Ende nach seinen
Vorstellungen zu bringen.
So ist inzwischen erkennbar, daß die vietnamesische Wirtschaft nach der
Einstellung aller chinesischen Hilfe im Sommer 1978 in eine Katastrophe zu
gleiten droht.
In den Fabriken fehlen Rohstoffe und Ersatzteile für Maschinen, in der
Landwirtschaft Saatgut und Dünger, beiden Sparten Eisenbahnwaggons und
Lastwagen. Wie Vizepremier Teng Hsiao-ping kürzlich erstmals enthüllte, hatte
China Hilfsgüter von insgesamt 20 Milliarden Mark über die vietnamesische Grenze
gerollt.
Doch seit Vietnam auch mit dem großen Bruder in Peking im Grenzstreit liegt und
sich mit chinesischen Schiffen bei den Paracel-Inseln im Südchinesischen Meer
auch schon Seegefechte lieferte, bleibt die Hilfe aus. Seit vorletzter Woche
können auch die Transit-Züge aus der Sowjet-Union nicht mehr durch China nach
Vietnam rollen.
Die Führung in Hanoi, nahezu ausschließlich in Krieg und konspirativem Kampf
aufgestiegen, war in schwierigen Situationen stets geneigt, gewaltsame Lösungen
langwierigen ökonomischen Entwicklungen vorzuziehen. So war der Krieg gegen
Kambodscha auch ein Versuch Vietnams, den Einsatz, die Disziplin und die
Opferbereitschaft der Kriegsjahre in der eigenen Bevölkerung erneut zu
beschwören.
Ob das riskante Spiel für die Vietnamesen am Ende gut geht, hängt fast nur von
China ab, da die USA sich in Indo-china gewiß nicht wieder engagieren.
Doch nichts spricht dafür, daß sich die Pekinger Hua-Teng-Führung von den
militanten Nachbarn provozieren läßt. Die Tatsache, daß die Männer um Pol Pot
und Ieng Sary ihren großen Rückhalt in Peking noch zur Zeit der gestürzten
„Viererbande" erlebten, macht es der jetzigen Führung erträglicher, den
vietnamesischen Streich hinzunehmen.
Eine militärische Intervention zugunsten des odiosen Pol-Pot-Regimes würde zudem
zu Chinas West-Öffnung wenig passen und Peking mit dem unkalkulierbaren Risiko
eines Eingreifens der Sowjet-Union belasten, der ein Groß-Vietnam als
Gegengewicht zu ihrem Angst-Gegner China wie ein Geschenk des Himmels erscheinen
muß.
China hat die Grenzwachen an der Vietnam-Grenze und am Ussuri, gegenüber der
Sowjet-Union, zwar verstärkt, doch das sind Verteidigungskräfte, eine Warnung an
die Anrainer, das kambodschanische Abenteuer nicht zu überdrehen. In der Sache
selbst läßt Peking den Prinzen Sihanouk als Kronzeugen sprechen, der noch dazu
den Vorteil hat, glaubwürdiger als andere kambodschanische Stimmen zu sein.
Unbeauftragt spricht er auch für die asiatischen Nachbarn, die sich nach dem
Vietnam-Schock, so steht zu erwarten, als Schutz vor dem Expansions-Drang Hanois
enger als zuvor um ein besonnen handelndes China scharen.
Wie Hohn klingt heute, was Vietnams Premier Pham Van Dong im Herbst 1978 bei
seinem vergeblichen Werben um eine Neuorganisation des Asean-Paktes in Malaysias
Hauptstadt Kuala Lumpur beteuerte:
Ich habe wiederholt betont, daß Vietnam die Systeme seiner Nachbarn
respektiere, daß Vietnam weder militärisch intervenieren noch andere Maßnahmen
ergreifen werde, die die Souveränität von Asean in Frage stellen könnten. Und
das ist definitiv.
Dazu erklärte der thailändische Premier General Kriansak dem SPIEGEL: Pham
Van Dong, der die Befreiungsarmee in Kamputschea unterstützt, hält sich nicht
genau an das, was er zu uns gesagt hat und was er unseres Wissens auch gegenüber
anderen Politikern des Asean-Paktes geäußert hat.
SPIEGEL: Wie werden die Beziehungen Ihrer Regierung mit der neuen Regierung in
Pnom Penh sein?
KRIANSAK: Wenn die neue Regierung in Pnom Penh eine friedliche Politik
verfolgt, wenn sie an ihrer Neutralitätserklärung festhält, wenn sie den Geist
von Bandung respektiert, dann können wir mit ihr leben. Der entscheidende Punkt
ist allerdings, daß sie, ebenso wie die Vietnamesen, ja eigentlich gar nicht
neutral sind.
Singapurs Staatschef Lee Kuan Yew sieht die asiatische Szene so:
China ist die „gutartigste aller kommunistischen Mächte". Es stellt keinerlei
Gebietsansprüche in Südostasien. Wenn China in 30 Jahren die dominierende Macht
Südostasiens ist, darf man sich ihm gegenüber wohler fühlen als beispielsweise
Venezuela gegenüber den USA oder als der einzelne Comecon-Staat gegenüber der
Sowjet-Union.
So kommt dem Gast Chinas, Prinz Norodom Sihanouk, bei der Suche nach einer
langfristigen Lösung des Kambodscha-Falls unverhofft eine Schlüsselrolle zu.
Sich von dem Steinzeit-Kommunismus des Pol Pot zu distanzieren fällt dem
politischen Frührentner mit dem Kindergesicht nicht schwer. Fast vier Jahre lang
war der Prinz selbst Gefangener des Regimes, seine beiden Töchter wurden wie
alle anderen Kambodschaner von den Roten zur Zwangsarbeit abkommandiert. Aber er
distanziert sich doch auch nicht zu sehr, um es wohl nicht mit Peking zu
verderben und die antivietnamesischen Sentiments für sich mobilisieren zu
können.
Was der Prinz der Presse bisher verschwieg: Der übergelaufene Khmer-Offizier Lim
Meanh berichtete kürzlich im Detail, wie ein Politkommissar mit Namen Paek in
einem Wald der Provinz Kralaeng den jüngeren Sohn Sihanouks, Prinz Norodom
Naradipo, hingerichtet hat. Lim Meanh: „Er mußte sterben, weil er den Roten
Khmer Unterricht in Marxismus erteilen wollte."
Im eigenen Land steht die Autorität Sihanouks außer Frage: Seine
Neutralitätspolitik hatte das Land jahrelang aus dem Vietnamkrieg
herausgehalten, hineingezogen wurde es erst nach dem von Nixon und Kissinger
betriebenen Sturz Sihanouks, einer der Großtaten amerikanischer Politiker in
Fernost.
Norodom Sihanouk machte sich schon 1971 keine Illusionen darüber, wie schwer es
die Kambodschaner haben, sich zwischen China und Vietnam als Nation zu
behaupten: „Wir sind dazu verurteilt, zwischen zwei dynamischen und ehrgeizigen
Völkern zu leben. Sie sind zahlreicher und wohlhabender als wir — und den
Vietnamesen fehlt es an Lebensraum."