DER SPIEGEL 43-1979 (S. 162)
Asiens Auschwitz
Das Volk verhungert. Die meisten Kinder sind schon tot. Die Hilfe aus dem
Westen kommt zu spät.
Die Tragödie kündigte sich schon vor vielen Monaten an: Als
vietnamesische Truppen um die Jahreswende zur Invasion auf Kambodscha ansetzten,
wurde die Arbeit auf den Reisfeldern praktisch eingestellt. Wer nach drei Jahren
gnadenloser Schreckensherrschaft der Roten Khmer noch arbeitsfähig war, mußte
ans Gewehr für das Regime Pol Pot.
Satellitenaufnahmen beweisen, daß höchstens elf Prozent der Reisfelder bestellt
wurden. Experten warnten vor einer riesigen Hungerkatastrophe, die für das
ohnehin ausgepowerte und über Jahre hinweg nur mangelhaft ernährte Volk tödlich
sein würde. Doch kaum jemand nahm von den Warnern Notiz.
Jetzt ist es soweit: Das kambodschanische Volk stirbt. Von den einstmals über
sieben Millionen Kambodschanern leben noch etwa dreieinhalb, bestenfalls vier
Millionen Menschen. Die meisten von ihnen haben kaum Chancen, die nächsten
Monate zu überstehen.
Das einstmals blühende Land ist zum Friedhof des eigenen Volkes geworden, zu
„Asiens Auschwitz" (so der republikanische US-Abgeordnete John B. Anderson).
Vertreter westlicher Hilfsorganisationen, denen die von den vietnamesischen
Siegern eingesetzte Regierung Heng Samrin jüngst die Einreise gestattete, sahen
unfaßbares Elend: Bis auf die Knochen abgemagerte Gestalten überall, Menschen,
die Blätter und Wurzeln herunterwürgen, Männer, die vor Entkräftung keine Arbeit
mehr verrichten, Frauen, die ihre Säuglinge nicht mehr stillen können. In den
Krankenhäusern, den wenigen, die es noch gibt, herrscht die Agonie des Hungers —
Sterbende überall.
Von den Kindern unter fünf lebt kaum noch eines. Insgesamt machen die Kinder,
die sich noch dahinquälen, gerade 20 Prozent der Bevölkerung aus — in
vergleichbaren Ländern Asiens liegt der Kinderanteil bei 50 Prozent und darüber.
Von tausend kambodschanischen Kindern, so schätzen Fachleute, werden nur zehn
das Pubertätsalter erreichen.
Wen der Hunger nicht dahinrafft, dem droht der Tod durch Krankheiten.
Tuberkulose, Malaria, Wurmkrankheiten wüten unter der Bevölkerung, ohne daß sie
etwas dagegen unternehmen könnte. Denn Ärzte waren vom Regime der Roten Khmer
unter dem Premier Pol Pot ebenso liquidiert worden wie andere Gebildete.
Deshalb sind im ganzen Land nur etwa 50 ausgebildete Mediziner übriggeblieben.
Und die haben keine Medikamente. Denn Heilmittel hatte Pol Pot ebenfalls
vernichten lassen.
Den Menschen Kambodschas bleibt kaum eine Chance. Die wöchentliche Reisration
beträgt pro Kopf 200 Gramm — kaum die Hälfte eines normalen Tagesbedarfs. Für
die etwa 15 000 Einwohner der ehemaligen Dreimillionenstadt Pnom Penh stehen
täglich auf dem Markt 50 Pfund Fisch zur Verfügung — für diejenigen, die Reis
zum Tauschen hergeben können.
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Die übrige Bevölkerung steht vor dem Nichts. Keine Nahrung für die
Hunderttausenden, die sich auf einer Binnenwanderung ohnegleichen dahin-
schleppen — zurück in ihre Heimatdörfer, um wenigstens daheim sterben zu können,
oder in Richtung Thailand, wo bereits über 100 000 Flüchtlinge dahinvegetieren.
Hilfe kommt nur langsam. Bis zum 12. Oktober waren auf dem Luftweg nicht mehr
als insgesamt 200 Tonnen Lebensmittel in Pnom Penh eingetroffen. Nach neuesten
Schätzungen der Uno-Kinderhilfsorganisation Unicef aber müßten über das nächste
halbe Jahr täglich wenigstens 900 Tonnen Lebensmittel in das Land geschafft
werden, um die meisten der noch Lebenden zu retten.
Doch Heng Samrin, Hanois Strohmann in Pnom Penh, geht es vordringlich um die
Macht — er sperrte sich lange gegen jede Hilfe von außen.
Denn Nahrungsmittel, so fürchtete er, könnten auch seinem noch immer im
unzugänglichen Nordwesten des Landes gegen ihn operierenden Vorgänger Pol Pot in
die Hände fallen.
Auch Heng Samrins vietnamesische Schirmherren sahen keinen Grund für
Hilfssendungen nach Kambodscha. „Nun ja, es gibt eine Nahrungsmittelknappheit",
meinte Cu Dinh Ba, Kanzler der vietnamesischen Uno-Vertretung, „aber keinesfalls
die Hungersnot, die der Westen hochspielt."
Der Hintergrund: Alle Beteiligten fürchten, mit den Hilfelieferungen werde auch
der internationale Druck zunehmen, einen Waffenstillstand zu schließen.
Daran aber haben weder Heng Samrin und die Vietnamesen noch Pol Pot Interesse.
Die einen wollen Kambodscha endgültig und notfalls auch ohne lebende
Kambodschaner einem großvietnamesischen Reich einverleiben, die anderen die
Vietnamesen ein für allemal aus Kambodscha jagen.
Pol Pot wären dafür alle Verbündeten recht, sogar die wenigen noch
kampftüchtigen Partisanen seines rechten Vorgängers Lon Nol. Sobald die
Vietnamesen vertrieben seien, läßt er ausstreuen, werde es freie Wahlen geben.
Und wenn die Mehrheit der Rest-Bevölkerung sich für eine
„Bourgeoisie-Demokratie" ausspreche, sei er auch damit einverstanden.
Um überhaupt helfen zu können, einigten sich die westlichen
Samariter-Organisationen schließlich mit Heng Samrin. Aber größere Lieferungen
können nicht sofort verteilt werden. In Pnom Penh und dem Hafen Kampong Som
fehlen Verladeeinrichtungen, die Infrastruktur des Landes ist zerstört — die
Kambodschaner müssen warten.
Schon jetzt sind sie, wie Henry R. Labouisse, einer der Direktoren von Unicef,
beobachtete, zu schwach, um normale Säcke zu entladen. Die Hilfsgüter müssen
erst in kleine Säcke umgepackt werden. Labouisse: „Wir haben es mit Sterbenden
zu tun." ♦