DER SPIEGEL 5-1978 (S.114-118)
Licht aus
Massenhinrichtungen und Entvölkerung der Städte, Zwangsarbeit und
Epidemien haben das alte Kambodscha zerstört. Die neuen Machthaber wollen einen
reinen Bauernstaat.
In Pnom Penh liegt massenweise Geld auf der Straße. Doch niemand bückt sich
danach — denn die Banknoten, obgleich Landeswährung, sind wertlos. Die
Geldwirtschaft ist im Demokratischen Kamputschea, wie sich Kambodscha heute
nennt, abgeschafft worden. Durch offenstehende Fenster sah ein ausländischer
Diplomat kürzlich allenthalben noch in volleingerichtete Bürgerwohnungen; der
Fernsehapparat steht im Wohnzimmer, eine schöne Vase auf der Anrichte, von der
Decke hängen die Lampen. Doch alles überzieht eine dicke Staubschicht.
Selbst an den breiten Hauptstraßen der Innenstadt hat kein einziges
Ladengeschäft geöffnet, kein Markt lockt Kunden an. Öffentliche Verkehrsmittel
sind hier schon lange stillgelegt worden; nur manchmal quält sich ein
altersschwacher Laster über die Wege, manch klappriges Fahrrad auch. Es gibt
keine Kinos, nicht einmal ein Postamt. Bürgersteige und Nebenstraßen, mit
Stacheldrahtverhauen abgesperrt, sind zu Gemüsebeeten umfunktioniert. Hühner
tummeln sich und Kaninchen.
Pnom Penh, bei Ende des Vietnam-Krieges vor knapp drei Jahren eine Metropole mit
über zwei Millionen Einwohnern, hat als städtisches Gemeinwesen fast aufgehört
zu existieren.
Eine „absurde Geisterstadt" entdeckten die Peking-Botschafter Dänemarks,
Schwedens und Finnlands, als sie Anfang Januar Kamputscheas Kapitale besuchten.
Offiziell leben noch 20 000 Menschen in Pnom Penh. Die skandinavischen
Diplomaten meinen jedoch, es seien noch erheblich weniger. Denn ein Großteil der
Arbeitenden wird nur tagsüber aus den umliegenden Dörfern in die Hauptstadt
gebracht.
Keine Laterne, kein Leuchtschild erhellen nachts die gespenstische Szene. In
Pnom Penh gilt, wie im ganzen übrigen Land, ab 21 Uhr der Befehl „Licht aus".
Als die kommunistischen Roten Khmer im April 1975 den Krieg in Kambodscha
siegreich für sich entschieden hatten, gingen sie unverzüglich daran, das Land
und seine Bevölkerung kompromißlos nach ihren radikalen Vorstellungen
umzugestalten. Städte galten ihnen als Symbole fremder Einflüsse, die den wahren
Charakter des Khmer-Volkes zerstört hätten. Deshalb sollten sie ausgelöscht
werden.
Doch für die totale Entvölkerung Pnom Penhs und der anderen Städte gab es
praktischere, naheliegendere Gründe als diese philosophisch verbrämte
Rechtfertigung. Weder hatten die Roten Khmer genügend Truppen, um die städtische
Bevölkerung zu überwachen und in Schach zu halten, noch sahen sie eine
Möglichkeit, die Versorgung der Massen mit Nahrung zu gewährleisten.
Statt also Reis nach Pnom Penh brachten sie Pnom Penh zu den Reisfeldern.
Der erzwungene lange Marsch aufs Land kostete Hunderttausende von Kambodschanern
das Leben, wie Flüchtlinge in thailändischen Lagern berichten. „Es gab nichts zu
essen und kein Wasser", erzählt der ehemalige Polizist Jeao Sok, „wir mußten nur
immer marschieren." Wer bei dem Gewaltmarsch nicht mithalten konnte, wurde
erschlagen oder erschossen, sagen Flüchtlinge. Die Schwachen — Frauen, Kinder,
Alte und Kranke — überließ man im unwegsamen Dschungel einfach ihrem Schicksal.
„Um das Neue zu bauen, müssen wir das Alte zerstören", soll nach
Überläufer-Behauptungen der Slogan sein, der jedem Roten-Khmer-Kader immer
wieder eingetrichtert wird. Das Neue ist ein Khmer-Utopia: die reine, wirkliche
revolutionäre Gesellschaft. „Wir machen etwas, das es in der ganzen
Menschheits-Geschichte noch nicht gegeben hat", sagte im vergangenen Jahr Jeng
Sary, Mitglied der ultralinken Führungs-Clique in Pnom Penh, dem SPIEGEL.
Dafür ist anscheinend kein Preis zu hoch. Schon weitgehend zerstört ist das Alte
— und dazu gehört alles, was je in Beziehung stand zum bürgerlichen,
vorrevolutionären Regime. Daß die Soldaten, die gegen die Roten Khmer gekämpft
hatten, in dem reinen „Arbeiter- und Bauernstaat" (Verfassungstext), der Utopie,
keinen Platz mehr haben würden, erscheint fast logisch: Mit der Machtübernahme
der Roten Khmer wurden sie pauschal zum Tode verurteilt, erzählen die
Flüchtlinge.
Das aber war nur der erste Schritt. Intellektuelle, Ärzte, Lehrer, Studenten.
Techniker galten als Träger dekadenten, alten Gedankenguts — und wurden zu
Tausenden ermordet. „In ganz Kambodscha gibt es heute wahrscheinlich nicht einen
einzigen Arzt, nicht einen Professor oder Ingenieur des alten Regimes, der noch
in seinem Beruf arbeitet", meint der französische Priester Vene, der Flüchtlinge
in Thailand betreut.
Flüchtling Tscheav Kean, einem 42jährigen Tischler in einer Fabrik im Gebiet Od
Dadao, wurde bei Kriegsende wie allen seinen Kollegen befohlen, am Arbeitsplatz
zu bleiben. Der Fabrikbelegschaft von 600 Mann fügten die Roten Khmer noch 1500
Arbeiter hinzu. Zwei Jahre später, im März 1977, wurden alle Techniker und
Ingenieure der alten Mannschaft zusammengetrieben, ans Flußufer geschleppt und.
so Kean, „mit Eisenstangen erschlagen".
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Zerstörtes Dorf und
verbrannte Reisfelder bei An Nong
Die systematische Verfolgung von früheren Studenten und Intellektuellen begann
im vergangenen Jahr, wie Flüchtlinge übereinstimmend aussagen: „Angkar wußte,
wer sie waren, und wartete nur auf eine Gelegenheit, sie zu beseitigen."
Angkar ist die gefürchtete, geheimnisumwitterte kommunistische Organisation, die
das heutige Kamputschea beherrscht. Sie ist verantwortlich für den Tod von
mindestens einer Million, anderen Schätzungen zufolge gar zwei Millionen
Kambodschanern seit dem Ende des Krieges vor drei Jahren.
Sie hat auch Kamputscheas Bevölkerung in zwei Klassen geteilt. Das „Altvolk",
Anhänger der Roten Khmer schon aus Kriegs- und Vorkriegstagen, und das
„Neuvolk", sogenannte „Kriegsgefangene" der Roten Khmer, Menschen, die für
Utopia „gereinigt" werden müssen. Zu ihnen zählen aber auch die „Feinde", die
ausgemerzt werden sollen.
Die Städte Kamputscheas sind entvölkert; die Kambodschaner leben heute in
kollektiven Einheiten von je 500 bis 600 Familien auf dem Lande, bewacht von nur
wenigen Soldaten der Roten Khmer — denn fast alle Truppen stehen an den Grenzen
nach Thailand und Vietnam. Seit dem Frühjahr 1977 nämlich leistet sich
Kambodscha einen, in den letzten Wochen eskalierenden Grenzkrieg mit Hanoi, den
selbst vietnamesische Diplomaten nicht zu verstehen vorgeben. Auch an der Grenze
nach Thailand finden immer wieder blutige Überfälle der Roten Khmer auf wehrlose
Dörfer statt.
Die Roten Khmer sind zahlenmäßig unterlegen — manchmal nur sieben Soldaten für
etwa 1000 Bauern — und herrschen deshalb um so brutaler durch die Macht des
Terrors. Ma Bonn Hok, früher Lehrer in Pnom Penh, erzählt, Soldaten hätten
seinen Freund erschlagen, „weil er für sich allein eine Suppe mit Süßkartoffeln
zubereitete".
In jedem Dorf bildet das „Neuvolk" den Kern, umgeben von einem Ring aus
„Altvolk" und Roten Khmer. Dem Neuvolk wird täglich 13 Stunden lang die
schwerste Arbeit auf den Feldern und bei Bewässerungsprojekten zugewiesen. Die
kargen Mahlzeiten aus Reisbrei dürfen nur gemeinsam eingenommen werden. Familien
leben zwar im selben Dorf, jedoch getrennt. Die Kinder werden in andere Gegenden
gebracht; um sie kümmert sich Angkar.
Ehepaaren wird nur etwa alle zwei Wochen gestattet, eine Nacht zusammen zu sein.
„Wer ohne Genehmigung bei seiner Frau war, wurde zu Angkar gebracht", erzählt
Sik Non, 35, ein Angestellter, der als Schmied arbeiten mußte, in dem
Flüchtlingslager Khloi Jai. Auch kleinste Vergehen wie „Verspätung bei der
Arbeit, Ungehorsam oder Werkzeugbeschädigung" werden mit dem Gang zu Angkar
bestraft. Und was das heißt, entdeckte Sik Non im Wald unweit des Dorfes: In
einer Grube lagen etwa 30 verweste Leichen.
In nur zwei Jahren verringerte sich die Bevölkerung dieses Dorfes so von 1100
auf 600 Menschen. In den meisten Fällen werden die Delinquente mit Eisenstangen,
Äxten oder Hacke erschlagen.
Männer und Frauen aus Alt- wie Neuvolk dürfen nur mit Zustimmung der Angkar
heiraten. Ohne Ehe aber auch keine Liebe: Ein junger Soldat wurde zusammen mit
einem Mädchen im Wald gesehen. Pin Seng, ein geflohener Offizier der Roten
Khmer, berichtete als Augenzeuge: „Beide wurden bis zum Hals in den Boden
eingegraben, und Genosse Da hat sie eigenhändig erschlagen."
Ist die Genehmigung erteilt, werden jeweils 30 bis 40 Paare gemeinsam getraut.
Ein Vertreter der Angkar — buddhistische Priester gibt es in Kamputschea nicht
mehr — verliest die Eheprinzipien: Betrügt euch nicht; gehorcht der Angkar;
streitet euch nicht; wer nicht gehorcht, wird getötet. Darauf erklären die
Paare: „Wir werden dem Weg der Angkar folgen und ihr gehorchen. Wenn wir einen
falschen Schritt tun, werden wir sterben. Wir werden nicht zögern oder
zurückschrecken." Nach der Hochzeitsnacht müssen sich die Eheleute wieder
trennen.
Das Altvolk traf der Terror der Angkar anfangs nicht so stark. Seit einem
gescheiterten Putschversuch gemäßigter Roter Khmer gegen die Ultra-Führung in
Pnom Penh Anfang vergangenen Jahres aber müssen selbst altgediente Revolutionäre
um ihr Leben bangen. Flüchtlingsberichten zufolge sollen in einer
Säuberungswelle Tausende von Roten Khmer hingerichtet worden sein. Ein Mann im
thailändischen Lager Kamput zum SPIEGEL: „Acht Männer, die sich an der
Revolution beteiligt hatten, wurden verhaftet und bei lebendigem Leibe auf dem
Sportplatz von Kampong Thom verbrannt."
Die hohe Todesrate in Kambodscha, Massenhinrichtungen, epidemische Krankheiten,
Malaria, Unterernährung — wird durch keinen Geburtenüberschuß ausgeglichen. Wie
Hohn fast klingt es, wenn Regierungschef Pol Pot erklärt, das demokratische
Kamputschea brauche eine Bevölkerung von 20 Millionen Menschen — also mehr als
das Dreifache der heutigen Bevölkerung. Zwei Prozent der Kambodschaner aber,
sagte Pol Pot, müßten zuvor als „unerwünschte Elemente" eliminiert werden.
Ein ehemaliger Dorf-Chef der Roten Khmer, Mit (Genosse) Pek, etwa erzählt, in
seinem Dorf mit 80 Familien seien in den vergangenen zwei Jahren nur zwei Kinder
geboren worden. Und: „In der Regel werden sie erst im Alter von drei Jahren
registriert, da sehr viele Säuglinge sterben."
Vor allem aber: Kambodschanerinnen werden unfruchtbar. „Unter solchen
Bedingungen wie in Konzentrationslagern setzt bei Frauen die Menstruation
einfach aus", erklärt ein Arzt der französischen Hilfsorganisation „medecins
sans frontiers", der sich seit einem Jahr um Kambodscha-Flüchtlinge bemüht. „Die
meisten meiner Patientinnen erzählen das." Eine Krankenschwester zynisch: „Für
ihr Familienplanungs-Programm brauchen die Roten Khmer keine Verhütungsmittel,
sondern künstliche Befruchtung."
Jeden Tag um zehn Uhr beginnt „Radio Pnom Penh, die Stimme des Demokratischen
Kamputschea", seine Sendungen mit der Nationalhymne: „O leuchtend rotes Blut,
das die Städte und Ebenen unseres Vaterlandes bedeckt. O Blut der Arbeiter und
Bauern ..."
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