DER SPIEGEL 8-1978 (S. 142-151) + 9-1978 (S.174-186)
„Du hast mein Gewehr beleidigt"
Augenzeugenbericht über Vertreibungen und Massenmorde in
Kambodscha / Von Khem Sou
Seit fast drei Jahren schockieren Berichte über eine
brutale Massenaustreibung aus den Städten Kambodschas und über millionenfachen
Mord die Welt. Doch bisher waren es stets nur Erzählungen aus zweiter Hand, denn
die Kommunisten haben ihr Land total abgeschottet. Jetzt veröffentlicht der
SPIEGEL erstmals den Augenzeugenbericht eines Kambodschaners, der die ersten
zwei Terror-Monate der Roten Khmer selbst miterlebte.
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Khem Sou |
Genau um 24 Uhr am 17. April 1975 gab Radio Pnom Penh
bekannt, daß die Kommunisten den Krieg für sich entschieden hätten. Die neue
Regierung und somit endlich die fähigen Leute seien an die Macht gekommen. Diese
Nachricht löste bei manchen Freude aus, manche versetzte sie jedoch in panische
Angst.
Der Chef der Provinz Pailin, der einzigen Provinz im ganzen Land, in der die
Roten Khmer die Macht noch nicht übernommen hatten, setzte sich mit dem
Hubschrauber nach Thailand ab. Mit ihm flohen Offiziere und Beamte.
Viele Menschen glaubten immer noch, daß nun der frühere Staatschef Prinz Norodom
Sihanouk die Macht übernommen habe. Ich wußte, daß dem nicht so war. Ich riet
meinen Bekannten, besonders den Beamten und anderen gefährdeten Personen, nach
Thailand zu fliehen. Die Grenze zu Thailand war nicht weit entfernt. Doch die
wenigsten entschlossen sich dazu. Manche, weil sie Haus und Kinder hatten,
andere erwarteten sich vom neuen Regime bessere, friedlichere Zeiten. Es war
ihnen gleichgültig, welche Regierung an die Macht kam, nur Frieden müßte endlich
herrschen.
18. April: Zuerst wollte auch ich nach Thailand fliehen, aber dann
überlegte ich es mir doch noch. Ich hatte Vater, Mutter und Geschwister in
Kambodscha. Wenn ich geflohen wäre, hätte ich wahrscheinlich nie mehr nach
Kambodscha zurück gekonnt, und dieses Land ist, ganz gleich unter welcher
Regierung, meine Heimat.
Besonders die reichen Kambodschaner nutzten jedoch ihre Chance und flüchteten.
Von der einfachen Landbevölkerung floh praktisch niemand. Im Gegenteil, die
Stimmung der Menschen hob sich. Überall hängten die Leute weiße Fahnen heraus,
zum Zeichen dafür, daß sie die neuen Machthaber begrüßten.
19. April: Die Kommunisten kamen. Sie besetzten die gesamte Provinz. Aber
es waren noch nicht viele. Es wurde nirgends geschossen, es gab ja auch nirgends
mehr Widerstand. Im Gegenteil, die Kommunisten wurden willkommen geheißen. Aber
zu einigen erwähnenswerten Zwischenfällen kam es doch.
Wer eine Uhr, einen Ring oder sonst-welchen Schmuck trug, dem konnte es
passieren, daß er diese Dinge an die Kommunisten abgeben mußte. Die Begründung
war, alles gehöre nun allen. „Dein Schmuck ist auch mein Schmuck, deine Uhr ist
auch meine Uhr, du hast sie lange genug getragen, jetzt trage ich sie einmal."
Am gleichen Tag ließen die Roten Khmer verlauten, daß sich sämtliche Beamten,
Soldaten und Offiziere bei der für das jeweilige Gebiet zuständigen Kommandantur
zu melden hätten. Sie würden umgeschult, man werde sie mit den Prinzipien des
Kommunismus vertraut machen.
Die meisten kamen dieser Aufforderung nach. Man registrierte sie und schickte
sie dann wieder heim, machte sie jedoch darauf aufmerksam, daß sie damit rechnen
müßten, in den nächsten Tagen in ein Umschulungslager in der Nähe von Battambang
geschickt zu werden. Ich kam der Aufforderung, mich als ehemaliger Beamter des
alten Regimes zu melden, nicht nach.
20. April: Es schien, als ob alles wieder seinen normalen Lauf nehme. Ich
ging an diesem Tag wieder in die Edelstein-Mine arbeiten. Selbst aus Thailand
kehrten in diesen Tagen wieder viele der Flüchtlinge zurück, die das Land nach
dem Machtwechsel panikartig verlassen hatten. Sie dachten, daß nun eine Zeit des
Friedens beginnen würde. Lebensmittel wurden billiger, was es schon seit Jahren
nicht mehr gegeben hatte. Aber dann kamen immer mehr Kommunisten, und nun
konnten sie auch ihr wahres Gesicht zeigen.
25. April: An diesem Tag gaben die Roten Khmer bekannt, daß sich nun alle
Soldaten, Polizisten und Beamten der Regierung Lon Nol zwecks Umschulung nach
Battambang begeben sollten. Lastwagen zum Transport würden zur Verfügung
gestellt.
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Alle Menschen müßten außerdem ihre Hütten und Häuser bis zu einem bestimmten Tag
verlassen und in Richtung Battambang gehen. Sie würden neue Wohnungen zugeteilt
bekommen.
Denn das Programm der Kommunisten besagte, daß in Kambodscha eine völlig neue
Gesellschaft entstehen müsse. Jeder solle sich eine neue Existenz schaffen, ganz
von vorn anfangen. Wer dazu nicht fähig sei, der solle krepieren, denn er werde
in dieser neuen Gesellschaft nicht gebraucht. Wälder sollten gerodet und zu
Äckern umgewandelt werden.
Zunächst wurde die Aktion auch damit begründet, daß Dörfer und Städte wegen der
Gefahr amerikanischer Bombardierungen geräumt werden müßten.
Das war für den größten Teil der Bevölkerung Kambodschas eine böse Überraschung.
Die Kambodschaner sind sehr traditionsbewußt. Sie hängen am Alten, am
Vergangenen. Und nun sollten sie ihre Häuser und ihre gewohnte Umgebung
aufgeben. Sie mußten ihre Heimat, die ja meist auch die Heimat ihrer Eltern war,
verlassen. Verständlich, daß bei diesen Anweisungen viele Menschen, besonders
ältere, in Tränen ausbrachen.
Gleichzeitig begannen aber nun auch den größten Optimisten die Augen aufzugehen.
Es war nicht Prinz Sihanouk, der die Macht übernommen hatte. Es war nicht jener
Prinz, der sie bei jeder seiner Radioansprachen vom Exil in Peking aus immer
„meine Kinder" genannt hatte. Es waren Kommunisten, und niemand kannte sie.
Alle Bitten, Ausnahmen zu machen, speziell was ältere, kranke Personen
anbelangte oder schwangere Frauen, halfen nichts. Sie wurden mit den Worten
abgetan: „Wir waren fünf Jahre und einen Monat im Dschungel, wir haben in dieser
Zeit für eure Freiheit gekämpft und dabei nicht einmal das Notwendigste gehabt."
27. April: An diesem Tag begann ich mich zu fragen, warum ich eigentlich
nicht nach Thailand geflüchtet war. Aber dann dachte ich mir wieder: Kambodscha
ist meine Heimat. Auch wenn es uns nun nicht mehr so gut gehen sollte, selbst
wenn wir unter primitiven Verhältnissen leben müßten, will ich in Kambodscha
bleiben.
Außerdem waren ja auch meine Eltern da — ich weiß allerdings bis heute nicht,
was aus ihnen geworden ist. Ich war mir aber auch darüber im klaren, daß mein
Leben in Kambodscha für mich ein ständiges Risiko sein würde.
28. April: An diesem Tag traf ich Vorbereitungen, mich auf den Weg in
Richtung Battambang zu machen. Die Frist, in der alle Bewohner Pailin verlassen
mußten, lief am 30. April ab.
29. April: Ich schloß mich der großen Menschenkolonne an, die in Richtung
Battambang unterwegs war. Noch durfte jeder sein Fahrzeug benutzen, sofern er
eines besaß. Ich besaß ein zweisitziges Moped, auf dem auch noch mein Nachbar
Platz fand. Auf einem zweirädrigen Karren, den wir als Mopedanhänger benutzten,
führten wir Reis und andere Lebensmittel mit.
In Dei Kraham, drei Kilometer entfernt, bemerkte ich, daß wir die Bratpfanne
vergessen hatten. Ich fuhr noch einmal zurück. Kurz bevor ich mein Dorf
erreichte, machte ich jedoch eine grausige Entdeckung. Ich kam an der Hütte
einer Familie vorbei, die bei der Machtübernahme durch die Kommunisten nach
Thailand geflohen war, aber sich dann durch die anfängliche Freundlichkeit hatte
täuschen lassen und wieder nach Kambodscha zurückgekehrt war.
Den Kommunisten war die Familie offensichtlich nicht mehr vertrauenswürdig
erschienen. Sie hatten sie erschossen. Der Mann war mit den Füßen nach oben an
einer Leiter aufgehängt und durch ein paar Schüsse in den Körper getötet worden.
Die Frau und die zwei kleinen Kinder lagen am Eingang der Hütte, ebenfalls tot.
Vom Begraben hielten die Roten Khmer nichts. Leichen sollten zur Abschreckung
liegenbleiben. Als ich die vier Leichen sah, ergriff mich panische Angst, und
ich kehrte, ohne noch an die Bratpfanne zu denken, nach Dei Kraham zurück.
Noch bevor ich dahin kam, lag schon wieder ein Toter auf der Straße. Ich kannte
ihn. Es war ein älterer, kranker Mann gewesen. Er hatte wegen seiner Krankheit
gebeten, in seiner Hütte bleiben zu dürfen. Wegen dieser Bitte war er erschossen
worden. Auch er durfte nicht begraben werden, er mußte als „Beispiel"
liegenbleiben.
30. April: Um vier Uhr früh sollten wir weiter. Die Straße war verstopft.
Frauen weinten, weil sie ihre Kinder in der Menge verloren hatten, Kinder
weinten, weil sie ihre Eltern vermißten. Um diesem „Gejammer" ein Ende zu
machen, schössen die Kommunisten ein paarmal in die Luft.
Die Roten spielten nun ihre ganze Brutalität aus. Weil die Straße überfüllt war,
begann man wahllos Männer, Frauen und Kinder in eine andere Richtung zu
schicken, in die Richtung von Sala Krav, westlich von uns. Dabei nahm man auf
die Familienzugehörigkeit keine Rücksicht. So kam es vor, daß die Kinder in
diese, die Eltern aber in jene Richtung geschickt wurden. Wer sich diesen
Anordnungen widersetzte, mußte mit Erschießen rechnen.
1. Mai: Wieder eine Nacht auf der Straße. Eine Nacht im Freien ist in
Kambodscha nicht schlimm, abgesehen von den Moskitos. Wieder ging es um vier Uhr
weiter. Um zehn Uhr waren wir in Pang Rolim. Hier konnten wir Rast machen. Aber
wir brauchten Wasser. Ich machte mich daher mit der Frau meines Nachbarn auf den
Weg, Wasser zu suchen. Wir hatten 1,5 Kilometer zurückgelegt, als wir einen
kleinen Teich fanden. Meine Nachbarin entdeckte, daß es in dem Teich viele
Frösche gab. Sie wollte einige fangen, da es kein Fleisch mehr gab.
Ich schöpfte inzwischen Wasser, erschrak jedoch zutiefst, als ich bemerkte, daß
das Wasser mit Blut vermischt war. Jetzt erst fiel mir der starke
Verwesungsgeruch auf. Ich sah mich um und bemerkte 25 Leichen. Es waren offenbar
alles ehemalige Beamte und Soldaten der Regierung Lon Nol, sie alle waren wohl
der Aufforderung nachgekommen, sich zum Zwecke der „Umschulung" zu melden. Das
war also die Umschulung.
So schnell wie möglich liefen wir zurück. Die Angst war stärker als der Hunger
und der Durst. Die Hitze, das schlechte Wasser und die mangelhafte Nahrung sowie
das Schlafen unter freiem Himmel begannen nun, die ersten Opfer zu fordern. Als
erste starben kleine Kinder und alte Leute. Da nur wenige ein Fahrzeug hatten,
mußten die meisten zu Fuß marschieren. Wenn jemand nicht mehr weiter konnte,
wurde ihm von den Roten einfach der „Gnadenschuß" gegeben. Ich glaubte in dieser
Zeit zu träumen. Ich ging automatisch weiter, aber ich war geistig gar nicht da.
2. Mai: In der Nacht zum 2. Mai gebar unweit von mir eine Frau ein Kind.
Ihr Kind starb noch in der gleichen Nacht. Es gab keine Hebamme, keine
Medikamente, keinen Arzt. Ihr Mann half ihr bei der Entbindung, aber auch er
konnte nicht verhindern, daß das Kind starb.
Am darauffolgenden Morgen mußte die Frau weitermarschieren, obwohl sie in der
Nacht geboren hatte. Die Frau raffte sich zusammen und versuchte weiterzugehen.
Dabei zog sie eine Blutspur hinter sich her. Vielen Frauen ging es auf diesem
Marsch ähnlich.
3. Mai: In dieser Nacht schlief ich in der Nähe eines Hauses, das zur
Ortschaft Treng gehörte. Auch in dieser Nacht entband eine Frau. Da ein
bewohntes Haus in der Nähe war, fragte der Ehemann, ob seine Frau nicht im Haus
ihr Kind zur Welt bringen könne. Das wurde aber von der Familie abgelehnt, denn
die Tradition ließ es nicht zu, daß eine fremde Frau in ihrem Hause entband.
Bis zum Abend des 3. Mai waren wir in Sdauv, einem früheren Markt. Hier wurde
mir mein Moped weggenommen. Sämtliche Wertgegenstände, die Uhren, Halsketten,
Armreifen und Ringe, mußten abgeliefert werden. Auch auf Medikamente hatten sie
es abgesehen. Mir nahmen sie meine Uhr weg und meine wertvolle Halskette, die
ich im Koffer hatte.
Auch Medikamente hatte ich noch, doch so gut versteckt, daß sie diese nicht
fanden. An diesem Tag hatte mich eine schwangere Frau, die ich von früher
kannte, gebeten, ihr bei der bevorstehenden Entbindung zu helfen. Da ich vier
Semester Medizin studiert hatte, versprach ich, ihr zu helfen.
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4. Mai: In der Nacht trennte ich mich von meinem Nachbarn und seiner
Familie und entschloß mich, mit der Frau, der ich bei der Entbindung helfen
wollte, und ihrem Mann zu gehen. Die Trennung war möglich, weil uns die Roten
Khmer an diesem Tag eine Alternative anboten. Wir konnten in Richtung Battambang
weitergehen, wir konnten uns aber auch für die Richtung nach Roung entscheiden,
das östlich von uns lag.
Das Zielgebiet hieß in diesem Fall Kampong Kul. In dieser Gegend gab es einen
Fluß und außerdem viel Zuckerrohr. Mein Nachbar hoffte, daß er dort besser für
seine Familie würde sorgen können. Ich zog mit der schwangeren Frau weiter. Ich
kochte, ihr Mann kümmerte sich um die Kinder. Die Frau hatte Verwandte in Pnom
Krapoeu („Krokodilberg"), und in dieses Gebiet würden wir kommen, wenn wir
unsere Richtung weitermarschierten.
5. Mai: An diesem Tag mußten wir die Straße nach Battambang verlassen und
durch den Dschungel gehen. Wir seien unserer „Zuteilung" nahe, ließen die
Kommunisten verlauten. Mit Zuteilung meinten sie das Gebiet, das wir in Zukunft
bewohnen würden und aus dem wir fruchtbares Ackerland machen müßten. Die Roten
zeigten ihre Macht durch wahllose Erschießungen.
6. Mai: Wir brauchten nicht weiterzumarschieren. Die Kommunisten hatten
selbst erkannt, daß ein Weitermarschieren ein Massensterben zur Folge haben
würde, denn vielen war das Wasser ausgegangen, die Vorräte waren erschöpft.
Auch uns war der Reis ausgegangen. Was sollten wir machen? Die Verwandten der
Frau wohnten in dem 20 Kilometer entfernten Krokodilberg. Es blieb mir nichts
anderes übrig, als mich an diesem freien Tag auf den Weg dorthin zu machen, um,
wenn möglich, Reis zu holen. Dazu war es notwendig, um Erlaubnis zu fragen, und
das war gefährlich. Doch ich erhielt die Erlaubnis, allerdings durfte ich nur
einen Tag wegbleiben.
Um vier Uhr morgens brach ich zusammen mit einer 12jährigen Tochter der
schwangeren Frau zu ihren Verwandten auf. Nach langem Suchen fanden wir sie. Wir
bekamen einen Korb mit ungeschältem Reis. Auch diese Familie mußte, wie wir,
einige Tage später ihre Heimat verlassen. Bis zum Abend waren wir wieder zurück.
Unterwegs fiel uns fürchterlicher Verwesungsgeruch auf. Leichen lagen herum,
hier ein Skelett, da eine halbverweste Leiche. Aber man gewöhnte sich an den
Anblick von Toten.
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7. Mai: Wieder lange Marschkolonnen. Die Straße durften wir nicht mehr
benutzen. Ein Gestell mit zwei Rädern war alles, was der Familie, die ich
begleitete, zur Verfügung stand. Auf diesem Wagen saß die schwangere Frau, ihr
Mann zog, ich schob.
Vor uns zog ebenfalls ein Mann aus der Provinz Pailin einen Karren. Er war, wie
ich, Beamter gewesen, aber auch er hatte sich nicht gemeldet. Ich kannte ihn von
früher und wußte, daß er eine Nervenkrankheit hatte. Kurz vor Mittag blieb er
mit seinem Wagen in einem Schlammloch stecken. Im gleichen Augenblick tauchte
ein Roter Khmer mit einem Moped auf. Er begann, den Mann mit seinem Gewehr zu
bedrohen; und schrie: „Mein Gewehr kann diese Stockung nicht entschuldigen. Du
hast mein Gewehr beleidigt!" Wenn mein Bekannter nicht augenblicklich
weiterziehe, werde er auf dieser Stelle „einschlafen", was hieß, erschossen.
Das schockte den kranken Mann derart, daß er zu zittern begann und sich wie ein
Kind benahm. Er stand wie gelähmt da und weinte. Zum Glück fanden sich einige,
die ihm den Karren herauszuziehen halfen.
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Am Abend des 7. Mai kamen wir an eine Pagode. Wir hofften, daß wir an diesem Ort
bleiben könnten. Das Kloster sah ziemlich heruntergekommen aus und war auch
nicht mehr bewohnt, aber voller Flüchtlinge. Wir fanden keinen Platz mehr und
wurden aufgefordert, am nächsten Tag weiterzugehen. Man sagte uns, daß wir nur
noch sieben Kilometer zu gehen brauchten, dann kämen wir an einen Ort namens
Kwauv, dort sei unsere „Zuteilung", dort müßten wir dann bleiben, um ganz von
vorn anzufangen.
Am nächsten Tag kamen wir nach Kwauv. Die Kommunisten begannen, das Land zu
vermessen. Jeweils zehn Familien sollten ein Stück Land zugeteilt bekommen, um
darauf Reis anzubauen. Über diese „Zehnerschaft" wurde ein Aufseher eingesetzt,
der die Verantwortung für die Leistung seiner Gruppe trug. Dieser Aufseher mußte
nicht unbedingt ein Kommunist sein, aber er mußte den Kommunisten
vertrauenswürdig erscheinen.
Die Organisation, sofern man von einer solchen sprechen konnte, bestand im
Überwachen und Antreiben. Es gab keine Versorgung mit Wasser oder Lebensmitteln,
auch keine ärztliche Hilfe.
Die erste Aufgabe, die uns gestellt wurde, war, Hütten zu errichten, jede
Familie sollte sich eine bauen, aus Gras, Zweigen und Ästen. Werkzeuge gab es
nicht.
Am ersten Tag ging ich Gras suchen, eine Grasart, die französisch „paillot"
heißt. Dieses Gras wird bis zu zwei Meter hoch und eignet sich in trockenem
Zustand vorzüglich zum Bauen einer Hütte. Ich hatte nur ein kleines Messer.
Damit schnitt ich Gras ab. Plötzlich stand ich vor einer giftigen Schlange. Ich
lief weg, das Gras ließ ich liegen, mein Messer auch.
Nun hatte ich kein Messer mehr. Womit sollte ich das Gras schneiden? Mir blieb
nichts anderes übrig, als umzukehren. Aber ich fand das Lager Kwauv nicht mehr.
Am Nachmittag traf ich auf eine Familie. Der Mann hatte zwei Messer, er schenkte
mir eins.
Nach drei Tagen ging das Wasser aus. Deshalb zwangen die Roten Khmer die Leute
im Lager, ins sieben Kilometer entfernte Boeung Krasal zu gehen, um Wasser zu
holen.
Zu diesem Zweck bekam ich zwei Kübel, die an einer Holzstange befestigt wurden.
Am 12. Mai war ich gerade wieder dabei, Wasser zu transportieren. Vor mir ging
ein junges Ehepaar, als uns ein Roter Khmer und ein anderer Mann entgegenkamen.
Der Begleiter des Soldaten fuchtelte mit den Händen herum. Dabei zeigte er immer
wieder auf die Frau, die vor mir ging. Als wir dicht bei ihnen waren, hob der
Kommunist sein Gewehr und erschoß die drei Meter vor mir gehende Frau.
Ich wagte es, den Kommunisten zu fragen, warum er denn die Frau erschossen habe.
Er schrie, sie sei eine Hure gewesen, und Huren hätten kein Existenzrecht. Auch
dürfe sie nicht begraben werden, denn hier sei ein Exempel statuiert worden.
Wir erhielten eine Zurechtweisung, weil wir weinten. Als Kommunist dürfe man
nicht weinen. Ich fragte den Mann, ob es stimme, daß seine Frau eine Hure
gewesen sei. Er erzählte mir, daß der Mann, der den Roten Khmer begleitet hatte,
der erste Ehemann seiner Frau gewesen war.
Kurz darauf kam uns ein vielleicht 60 Jahre alter Mann entgegen. Als er die Tote
liegen sah, begrub er sie. Wir sagten ihm, es sei verboten, die Frau zu
begraben. Er antwortete, daß er das schon wisse, denn der Kommunist, der die
Frau erschossen hatte, war auch ihm begegnet und hatte ihm gesagt, daß die tote
Frau auf dem Weg auf keinen Fall begraben werden dürfe. Aber, meinte der Mann,
er sei schon alt, und es mache ihm nichts aus, sterben zu müssen.
Nicht nur alten Menschen machte der Tod in diesen Tagen nichts mehr aus. Im Tod
gebe es wenigstens keine Kommunisten mehr, so dachten viele.
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15. Mai: An diesem Tag bauten wir unsere Hütte fertig. Zwischen neun und
zehn Uhr in der Nacht bekam die Frau dann Zwillinge, zwei Jungen. Die Geburt
selbst ging reibungslos vor sich. Leider starb am nächsten Tag der erste der
Zwillinge und am Abend des gleichen Tages auch der zweite. Die Kinder waren zu
schwach gewesen.
16. Mai: Von Anfang an hatten wir kein Fleisch, nur immer Reis mit Salz
und ein wenig Wildgemüse aus dem Wald. Dazu Wasser aus dem Tümpel oder dem Teich
von Boeung Krasal. Nun gingen auch die ohnehin knappen Reisreserven aus. Es gab
keine Frösche, auch die Ratten, die ebenfalls gegessen wurden, waren stark
dezimiert.
17. Mai: Keine Nahrung, und trotzdem verlangten die Kommunisten, daß wir
von sechs Uhr früh bis sechs Uhr abends arbeiteten. Ohne Werkzeuge mußten wir
aus der Wildnis Ackerland machen. Mit Messern wurden Bäume gefällt. Der Pflug
wurde von Menschen gezogen. Arbeiten mußten alle, Kinder, Kranke, auch Frauen,
die kurz vor einer Geburt standen, aber auch am Tag nach der Entbindung.
Nachdem es keine Nahrung mehr gab, wurde in jeder Zehnerschaft einer ausgewählt,
der im Dschungel nach Obst oder sonst Eßbarem suchen mußte. Als ich mich am
Morgen des 18. Mai auf den Weg machte, nach Obst zu suchen, dachte ich über das
Elend nach, das die Kommunisten über uns gebracht hatten. Waren das noch
Menschen? Ich kannte aus meiner Schulzeit die kommunistische Lehre. Das konnte
doch nicht die Verwirklichung der kommunistischen Idee sein.
Durch die unhygienischen Verhältnisse im Lager, durch das schmutzige Wasser, das
zum Teil verdorbene Essen bekamen viele Menschen Durchfall, aber keinen normalen
Durchfall. Die meisten lebten nur noch zwei Tage. Man kann sich den Gestank, der
in dieser Zeit überall herrschte, nicht vorstellen.
Ich fand im Dschungel Bananen. Bei dieser Gelegenheit wollte ich mich auch nach
dem Weg in Richtung Thailand erkundigen. Denn ich sah rings um mich herum die
Menschen sterben. Wer konnte wissen, ob nicht ich, der nächste Tote sein würde?
Aber wie sollte ich den Weg nach Thailand auskundschaften? Direkt konnte ich
niemanden fragen.
In dieser Zeit begannen die Roten Khmer, uns ideologisch zu schulen, alle
ledigen Männer von 18 Jahren aufwärts. Es wurde uns gesagt, wir sollten uns auf
einen neuen Krieg vorbereiten. Wer der Gegner sei? Das kommunistische Vietnam!
Angeblich hegte Vietnam Angriffspläne gegen Kambodscha. Auch Thailand sagte man
Expansionsabsichten nach. Wir sollten daher arbeiten, arbeiten und nochmals
arbeiten, damit sich Kambodscha auf den Krieg vorbereiten könne und genug
Reserven an Reis und anderen notwendigen Gütern hätte.
Immer neue Menschen kamen ins Lager. Ich hörte, daß auch ein guter Bekannter mit
seiner Familie gekommen sei. Ich trennte mich von meinen bisherigen Gastgebern.
Es war sowieso viel zu eng in ihrer Hütte gewesen. Außerdem konnte der Bekannte
Thai sprechen, und ich hoffte, daß er wisse, wie ich nach Thailand kommen
könnte.
Über meinen Plan, nach Thailand zu fliehen, traute ich mich jedoch nicht offen
zu sprechen. Ich mußte wieder in den Dschungel gehen, um Nahrung zu suchen.
Schnecken, Insekten, alles wurde von Tag zu Tag weniger. Daher ersuchte ich den
Aufseher meiner Zehnerschaft, mir die Erlaubnis zu geben, zum Fluß Mongkol Borei
zu gehen, um dort zu fischen.
Nach 20 Kilometern kam ich zum Fluß. Fische fing ich nicht, aber dafür gab es
viele Muscheln. Als ich aus dem Wasser stieg, war ich über und über mit
Blutegeln bedeckt. Der Hunger wurde immer schlimmer. Obwohl ich es selbst nie
sah, hörte man, daß manche Hungernden sogar Leichen aßen.
Um den 30. Mai herum trocknete die Wasserquelle des Lagers, des sieben Kilometer
entfernten Boeung Krasal, aus. Es waren Fische im Teich, die wir laut Anweisung
der Kommunisten unter Androhung der Todesstrafe nicht fangen durften. Hätten wir
noch Wasser aus dem Teich geholt, wären die Fische gefährdet gewesen, und das
wollten die Kommunisten unter allen Umständen vermeiden. Lieber sollten die
Menschen sterben, die Fische mußten am Leben bleiben.
Auf dem Heimweg von einem meiner letzten Wassertransporte konnte ich einen
kleinen Frosch fangen, eine Kostbarkeit, wenn man großen Hunger hat. Aus diesem
Frosch machten wir drei Suppen. Wie wir das machten? Nun, wir banden den kleinen
Frosch an ein Stück Schnur, nahmen einen Kessel mit heißem Wasser und hängten
den Frosch in das kochende Wasser hinein. Nach kurzer Zeit nahmen wir ihn wieder
heraus und machten noch zweimal das gleiche.
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Mit dem Roten-Khmer-Führer Khieu Samphan (1973)
Zum Glück regnete es Anfang Juni kräftig. In den Hufspuren
von Zugtieren blieb das Regenwasser stehen. Aus diesen Löchern und auch aus
Pfützen tranken wir das lehmige, morastige Wasser. Noch einen Vorteil hatte der
Regen. Wenn es im Dschungel regnet, kommt aus der Erde eine Art Krebse an die
Oberfläche, keine großen, vielleicht vier, fünf Zentimeter im Durchmesser, aber
groß genug, daß man aus zwei von ihnen eine Suppe machen konnte.
Die Hygiene wurde katastrophal. Der Durchfall, die Leichen, das Erbrechen, alles
blieb liegen und lockte Millionen lästiger Insekten an. Der Gestank wurde
unerträglich.
5. Juni: An diesem Tag ging ich wieder zu dem 20 Kilometer entfernten
Fluß auf Muschelsuche. Auf dem Heimweg kamen wir an der Hütte des Mannes vorbei,
dessen Karren im Schlamm steckengeblieben war. Ich sah, wie er gerade verhaftet
wurde. Er war ganz weiß im Gesicht, seine Frau weinte. Die Kommunisten sagten
ihm, sie würden ihn zu den anderen Beamten ins Umschulungslager bringen. Was das
bedeutete, hatte sich inzwischen herumgesprochen. Später hörten wir, daß die
Roten Khmer den Mann nahe beim Lager erschossen hatten.
Ich hatte eine Art Privileg. Nach wie vor durfte ich das Obst für meine
Zehnerschaft suchen, brauchte also nicht bei sengender Hitze mit einem Messer in
der Hand Bäume zu fällen, brauchte auch nicht auf dem Feld zu arbeiten. Während
dieser Zeit kam ich oftmals bis zum Abend nicht ins Lager zurück. Ich
übernachtete dann im Dschungel.
15. Juni: An diesem Tag wurde zum erstenmal bekanntgegeben, daß wir von
den Kommunisten Reis bekommen würden. Und zwar werde der Reis zur Straße, die
nach Battambang führt, gebracht werden. Dort müßten wir ihn abholen. Diese
Straße lag etwa 27 Kilometer vom Lager entfernt.
Ich wurde ausgewählt, diesen Reis zu holen. Jede Zehnerschaft bekam insgesamt
zwei Säcke Reis mit je 25 Kilo. Der Reis war ungeschält. Neben der Straße lagen
mehrere leere Jute-Säcke. Einige Zehnerschaften hatten nämlich eigene Säcke
mitgebracht, und der Reis wurde umgefüllt.
Kurz darauf erhielten mein Freund und ich unsere Reis-Ladung. Ich warf noch
einmal einen Blick auf die Straße. Ich kannte sie von früher her. Welch ein
Unterschied! Früher war Leben auf der Straße gewesen, nun aber war sie tot. Vor
einigen Tagen hatten die Kommunisten befohlen, daß alle Menschen, die an der
Straße wohnten, ihren Wohnsitz mindestens einen Kilometer von der Straße weg
verlegen müßten.
Mein Freund kannte eine Familie, die einen Kilometer von der Straße entfernt
wohnte. Dort wollten wir die Nacht verbringen. Wir wurden auch freundlich
aufgenommen.
Dir Familie hatte zwei Kinder, die Kommunisten waren. Der Gastgeber behauptete,
sich in allen Gegenden Kambodschas auszukennen. Auch in Thailand war er schon
gewesen. Dieser Mann müßte also wissen, wie man nach Thailand kommt. Aber wie
fragen? Als er wieder von Thailand sprach und auch bemerkte, daß die Grenze zu
Thailand nicht weit entfernt sei, fragte ich ihn, ob es nicht gefährlich sei,
uns Kambodschaner so nahe der thailändischen Grenze leben zu lassen, denn so sei
es doch vielen möglich, nach Thailand zu fliehen.
Er stieg prompt ein und erklärte, daß es ganz unmöglich sei, nach Thailand zu
fliehen, denn der Weg dorthin und auch die Grenze seien von unseren Soldaten so
gut bewacht, daß nicht einmal eine Ameise nach Thailand kriechen könne, ohne
bemerkt zu werden.
Daraufhin entgegnete ich, daß ich es einfach nicht glauben könnte, daß Thailand
wirklich so nahe sei. Nun schilderte er mir im Detail, welchen Weg man gehen
müsse, um nach Thailand zu gelangen. Vom Lager aus, also von Kwauv, müsse man in
Richtung Badek Boeung Khtuom marschieren und sich von da an südwestlich halten,
dann komme man direkt nach Thailand. Dabei könne man sich auch an einem Berg
namens Kondamrey orientieren. Dahinter beginne Thailand.
Am nächsten Morgen zogen wir mit unserem Reis weiter. Unser Gastgeber schenkte
uns zum Abschied sogar noch einen kleinen Rad-Anhänger, so daß wir den Reis
nicht tragen mußten.
Als wir uns dem Lager näherten, hörten wir aus einiger Entfernung, daß große
Aufregung herrschte. Kurz darauf sahen wir auch den Grund dafür. Besser gesagt,
wir sahen den Grund am Boden liegen. Auf einem freien Platz am Rande des Lagers
lag ein toter Mann. Er war gerade erschossen worden. Der Grund: Er hatte die
Flucht ins benachbarte Thailand geplant, sagten die Kommunisten.
Wir ließen uns dennoch nicht von unserem Ziel abbringen. Ich sagte der
befreundeten Familie, in deren Hütte ich wohnte, daß ich am nächsten Tag wieder
auf Obstsuche gehen müsse. Ich sagte auch, daß ich mich auf der Straße mit einer
Familie treffen wolle, um Obst gegen Reis zu tauschen. Dieser Plan gefiel auch
dem Aufseher meiner Zehnerschaft. Er erlaubte mir, daß mein Freund mich
begleitete. Ich bekam sogar eine Bestätigung, daß ich zwei Tage lang ausbleiben
dürfe.
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17. Juni: Beim ersten Morgengrauen kam mein Freund zu meiner Hütte. Die
Wachen ließen uns passieren, nachdem wir unsere Bestätigung vorgezeigt hatten.
Diese Bestätigung leistete uns später wieder wertvolle Dienste.
Wir kamen nämlich gegen acht Uhr an einem Feld vorbei, auf dem unter Aufsicht
von zwei Roten Khmer gearbeitet wurde. Sofort wurden wir angehalten und mit
barschem Ton gefragt, warum wir nicht arbeiteten. Unsere Bestätigung besänftigte
sie. Wir konnten weiter. Gegen Mittag waren wir schon in Badak Boeung Khtuom.
Immer wieder erschraken wir, wenn vor uns plötzlich Vögel aufflogen. Denn wir
wußten nie, ob die Vögel unseretwegen aufflogen, oder ob uns jemand entgegenkam.
Es war gegen Abend, als wir auf einer freien Fläche im Dschungel auf einen etwa
500 Meter langen Erdwall stießen. Dieser Wall war nichts anderes als ein
Massengrab. Wie mein Freund wußte, lagen hier Hunderte Soldaten des alten
Regimes begraben.
Sie alle waren leichtgläubig der Aufforderung der Kommunisten gefolgt, sich für
eine Umschulung zu melden. Sie hatten nichts getan, als unter Zwang dem alten
Regime zu dienen.
Da das Massengrab noch sehr frisch schien, verließen wir den Ort schleunigst,
weil wir fürchteten, daß die Roten noch in der Nähe seien. Am Abend schlugen wir
unser Nachtlager auf einem Baum auf. Auf dem Boden schien es uns zu gefährlich.
Kurz zuvor hatten wir einen Tiger brüllen hören.
19. Juni: Unsere Reserven an Nahrung waren aufgebraucht, wir hatten nur
noch vier Bananen. Mein Freund hatte Hunger, und das begann sich nun bemerkbar
zu machen. Er konnte nicht mehr so schnell gehen. Zu Mittag wollte ich — wie
immer — eine Pause machen, da man bei dieser Sonnenstellung leicht in die
falsche Richtung gehen konnte. Aber mein Freund meinte, daß er noch heute nach
Thailand kommen wolle, da er großen Hunger habe.
Um etwa zwei Uhr stießen wir auf Spuren von Elefanten. Mein Freund war außer
sich vor Freude. Denn er meinte, daß wir nun schon in Thailand seien. Er
glaubte, daß es sich hier um die Spuren von thailändischen Arbeitselefanten
handele. Fast drei Stunden gingen wir der Spur nach.
Dann kamen wir zu einem Feld, auf dem viele Männer, Frauen und Kinder
arbeiteten. Sie trugen alte, schmutzige Kleidung mit vielen Flicken. Das
bestärkte mich in der Ansicht, daß wir noch in Kambodscha seien. Aber mein
Freund ließ nicht von seiner Meinung ab. Er stand auf und ging auf die Leute zu.
Ich wollte ihn noch zurückhalten, aber da hatte uns eine Frau gesehen.
Das erste, das sie uns fragte, als wir auf die Frau zukamen, war: „Was wollt ihr
hier?" — auf kambodschanisch. Uns stockte der Atem. Mein Freund konnte vor
lauter Angst nicht antworten, hatte er doch damit gerechnet, daß wir schon in
Thailand seien.
Ich sagte der Frau: „Schwester (die unter Kommunisten übliche Anrede), wir waren
auf Obstsuche und haben uns dabei verirrt." Sie rief den Kommunisten, der die
Arbeit überwachte.
„Du hast mein Gewehr beleidigt"
Augenzeugenbericht über Vertreibung und Massenmorde in Kambodscha
(II) / Von Khem Sou
Tagelang irrte eine Gruppe Kambodschaner unter Todesangst durch den
Dschungel, bevor ihr die Flucht nach Thailand gelang: Khem Sou, 27, Generalssohn
und Medizinstudent aus Pnom Penh, der heute in Österreich lebt, gibt den ersten
detaillierten Bericht über das Terrorregime der Roten Khmer in Kambodscha.
Der „Chef" der Arbeiter auf dem Feld war ein Kommunist, etwa 35 Jahre alt. Er
machte einen harten Eindruck. Dementsprechend hart fiel die Frage aus, was wir
hier wollten. Ich sagte ihm, daß wir uns verirrt hätten. Wir seien schon drei
Tage unterwegs, hätten großen Hunger und Durst und seien sehr glücklich, nun
endlich ein Dorf gefunden zu haben.
Er sagte, daß wir großes Glück gehabt hätten, im Wald keinen Kommunisten
begegnet zu sein, denn sonst würden wir nicht mehr leben. Wir soll-
ten mitkommen, er werde uns zum kommunistischen Chef des ganzen Gebietes führen.
Auf dem Weg dorthin wurde es dunkel. Nun erfuhren wir auch, wo wir waren: in
Takuth Takrey, einem Gebiet nahe der thailändischen Grenze, aber noch in
Kambodscha und nicht, wie wir gehofft hatten, schon im sicheren Thailand. In
diesem Gebiet hatten die Kommunisten die Macht schon vor Jahren übernommen,
deshalb ging es den Leuten besser.
Dann standen wir vor dem Haus des Chefs, einem Pfahlbau. Es war schon dunkel,
als unser Begleiter rief: „Freund Chef, wir haben zwei Neue aus dem Gebiet Kwauv.
Sie haben sich beim Obstsuchen verirrt."
Dann kam der Chef. Er war mir auf den ersten Blick sympathisch, hager, etwa 60
Jahre alt. Wir redeten ihn gleich mit Vater an, das schien ihm zu gefallen. Wir
wurden von der ganzen Familie freundlich, ja liebevoll behandelt. Der Mann war
zu uns wie zu Söhnen. Er fragte uns, wie es uns in dieses Gebiet verschlagen
habe. Ich erklärte auch ihm, daß wir uns beim Obstsuchen verirrt hätten. Aber
dieser Mann war intelligent, ich merkte an seinem Gesichtsausdruck, daß er meine
Geschichte nicht glaubte.
Die Hütte war auf Pfählen errichtet und hatte auch eine Art Veranda. Auf diese
Veranda legten wir uns, denn es war eine sehr warme Nacht. Unter dem Hüttenboden
waren Rinder eingestellt. Während wir sprachen, wurden die Rinder plötzlich
unter der Hütte unruhig. Offensichtlich war jemand unter der Hütte, der uns
belauschen wollte.
Der alte Mann schaute mich an und reagierte sofort. Er sagte: „Mein Sohn, warum
bist du erst jetzt zurückgekehrt?" Er sprach mit mir, als kenne er mich schon
seit meiner frühesten Kindheit. Er wollte den Eindruck erwecken, ich sei ein
Pflegesohn von ihm. Schließlich schloß er mit den Worten: „Es ist schon spät, du
bist sicherlich sehr müde von der langen Wanderung", und löschte die
Petroleumlampe.
Kurz darauf hörten wir, daß unser Zuhörer offensichtlich davon überzeugt war,
daß es nun nichts mehr zu hören gäbe. Als wir sicher waren, daß er weg war,
erklärte mir der alte Mann, daß die Person, die uns belauscht hatte,
wahrscheinlich ein uniformierter Roter Khmer gewesen sei.
Um das zu verstehen, muß man erwähnen, daß es zwei Gruppen von Kommunisten gab:
Die Kommunisten in Zivil und die militärischen Kommunisten. Zu fürchten waren
die militärischen Kommunisten, denn die fanden ihren Spaß daran, ihre Gewehre zu
beschäftigen, wie sie es nannten.
Die Zivilkommunisten waren nicht so gefährlich, sondern im allgemeinen humaner,
besonders dieser alte Mann. Die militärischen Roten Khmer überwachten auch ihn.
Es gab in jedem Ort, in jedem Lager eine Art Büro dieser militärischen
Kommunisten.
Die militärischen Kommunisten suchten offenbar nach Möglichkeiten, ihren zivilen
Gesinnungsgenossen eines auszuwischen.
20. Juni: Am nächsten Morgen mußten wir uns im Büro der militärischen Roten
Khmer melden. Bevor wir ins Büro gingen, bat mich der alte Mann, ich möge doch
bei ihm bleiben, da er mich sehr gern habe. Ich sagte ihm, daß dies nicht
möglich sei, da mein Freund bereits verheiratet sei (was nicht stimmte) und ich
in Kwauv auf meine Eltern warten wolle.
Dann kamen wir zur militärischen Stelle der Kommunisten. Der alte Mann erklärte
den vier Roten Khmer, die dort waren, daß ich sein Pflegesohn sei und daß ich
mich zusammen mit meinem Freund verirrt hätte. Man glaubte uns, gleichzeitig
machten uns die vier jedoch darauf aufmerksam, daß, wenn ich nicht der
Pflegesohn des alten Mannes gewesen wäre, wir mit dem Tod hätten rechnen müssen.
Mein „Vater" fragte noch, ob ich noch für einen Tag eine Aufenthaltsgenehmigung
bekommen könne, weil er mir die Errungenschaften des Kommunismus zeigen wolle.
Auch das wurde genehmigt. Am nächsten Tag sollten wir in Begleitung eines
Kommunisten in das Lager Kwauv zurückkehren.
Auffällig war, daß alle vier schöne Uhren trugen und diese offenbar noch nicht
lange hatten, denn sie schauten alle Augenblicke darauf. Die Uhren machten sie
stolz.
Man stellte also mir und meinem Freund eine Bestätigung aus, daß wir am nächsten
Tag ins Lager Kwauv zurückkehren könnten. Mein Pflegevater wollte mir
anschließend noch einiges in diesem kleinen Dorf zeigen, mein Freund blieb
jedoch noch im Büro der militärischen Kommunisten.
Der alte Mann zeigte mir als erstes das sogenannte Krankenhaus des Dorfes. Es
bestand aus zwei Hütten, geleitet wurde es von zwei Mädchen. Die beiden waren
überhaupt nicht medizinisch ausgebildet, sie hatten nur ein bißchen praktische
Erfahrung. Das einzige Medikament, das ihnen zur Verfügung stand, war Vitamin
B1, das sie nur in Injektionsform verabreichen konnten.
Ganz gleich, welche Krankheit ein Patient hatte, das erste war, daß ihm von den
Mädchen Vitamin B1 injiziert wurde, bei Fieber, bei Ruhr, bei Malaria. Die
Mädchen erklärten mir, daß sie mit dieser Medizin alles heilen könnten, nur die
Dosis sei von Fall zu Fall verschieden. Anschließend schilderten sie mir, wie
sie mit diesen Injektionen Durchfall behandelten.
Dann zeigte mir der alte Mann ein altes, verlassenes Kloster. Diese ehemalige
Pagode diente nun als Reisdepot. In einer an das Kloster angebauten Hütte wurde
Salz gelagert. Damit waren die Schätze des Ortes gezeigt, und wir gingen wieder
zur Hütte meines „Vaters" zurück.
Wo aber war mein Freund? Ich lief wieder in das Büro der Roten Khmer, denn dort
hatte ich ihn zum letzten Mal gesehen. Da sagte man mir, daß mein Freund
schlecht über mich geredet habe, daß er mir die Schuld dafür gegeben habe, daß
wir uns verirrt hätten.
Daraufhin sei er von den Roten abgeführt worden. Denn wenn jemand auf einen
anderen während dessen Abwesenheit schimpfe, verdiene er den Tod. Außerdem sei
ich ja noch dazu der Pflegesohn des alten Kommunisten.
Es gelang mir jedoch, die Miltitärs von ihrem Vorhaben, meinen Freund zu
erschießen, gerade noch abzubringen. Ein Soldat wurde mit einem Moped
weggeschickt, um meinen Freund wieder zurückzuholen. Der Soldat fuhr nur im
ersten Gang, schalten konnten die wenigsten Kommunisten. Wann immer ich einen
Roten Khmer auf einem Moped sah, fuhr er im ersten Gang. Der Soldat kam gerade
noch zurecht, um meinen Freund zu retten.
21. Juni: Um sechs Uhr ging's am nächsten Morgen wieder zurück. Wie schon
erwähnt, begleitete uns ein ziviler Kommunist. Es war dies ein Mann von etwa 25
Jahren, wie alle Kommunisten schwarz gekleidet. Unterwegs erzählte er mir, daß
er früher ein Soldat des alten Regimes gewesen sei. Doch dann sei er desertiert
und zu den Kommunisten übergelaufen.
Am nächsten Abend kamen wir wieder in Kwauv an. Da wir uns nicht zu verstecken
brauchten und Wege benutzen konnten, benötigten wir zurück nur zwei Tage. Der
Chef unserer Zehnerschaft glaubte unsere Geschichte, zumal wir auch eine
Bestätigung hatten; auch im Lager verbreitete sich die Nachricht, daß ich der
Pflegesohn eines alten Kommunisten sei.
Am nächsten Tag mußte ich wieder auf Obstsuche gehen. Es war kurz vor
Sonnenuntergang, als wir zurückkehrten.
Als wir heimkamen, wartete die Frau meines Hüttenherren mit einer
Schreckensnachricht auf mich. Zwei militärische Kommunisten seien heute
angekommen und suchten im ganzen Lager nach einem früheren Beamten. Er heiße ...
und dann nannten sie meinen richtigen Namen. Dazu ist zu sagen, daß zwar einige
Personen im Lager wußten, daß ich Beamter gewesen war, so auch die Familie, bei
der ich wohnte, aber daß niemand meinen richtigen Namen kannte.
Ich hatte schon einige Zeit vor der kommunistischen Machtergreifung unter
falschem Namen in Pailin gelebt. Ich besaß zwar auf diesen falschen Namen keine
Papiere, aber in dieser Zeit hatten die wenigsten noch ihre Papiere.
Ich konnte in dieser Nacht kaum schlafen und faßte abermals den Entschluß, nach
Thailand zu fliehen. Die Kommunisten wußten aus irgendeiner Quelle, daß ich im
Lager war. Es war also nur mehr eine Frage der Zeit, bis sie mich finden würden.
Am nächsten Morgen sollten ich und mein Bekannter schon um fünf Uhr Bananen
holen, die wir kurz vor dem Lager hatten liegen lassen. Denn um sechs Uhr mußten
wir schon auf dem Feld sein und arbeiten. Diesmal auch ich.
Mein Bekannter ging etwas schneller als ich, er hatte schon nach kurzer Zeit
einen beträchtlichen Vorsprung. Es war noch ziemlich dunkel. Plötzlich kam mir
ein Mann entgegen. In der Dunkelheit konnte ich nicht erkennen, wer das war und
ob ich ihn kannte. Er kam schnell näher, und als er bei mir war, hob er seine
Hand, als wolle er auf mich einschlagen. Im selben Augenblick bemerkte ich, daß
ich diesen Mann kannte. Er war Beamter gewesen wie ich, und auch er lebte im
Lager unter falschem Namen.
Ich redete ihn mit seinem richtigen Namen an. Zu meinem Glück, denn er wollte
wirklich auf mich einschlagen, weil er auf der Flucht war. Er hatte panische
Angst gehabt, weil er dachte, ich sei ein Kommunist.
Rasch erklärte er mir, was er vorhatte. Er ermunterte mich, sofort mit ihm zu
kommen, denn auch er habe gestern gehört, wie einige Kommunisten meinen Namen
nannten. Ich entgegnete ihm, daß ich auf die Flucht nicht vorbereitet sei, daß
ich weder Lebensmittel bei mir hätte und auch nicht entsprechend angezogen sei.
Aber er meinte, daß sein Vorrat für uns beide reichen würde, außerdem könne er
mir ein langes Hemd geben. Ich hatte an diesem Morgen nur einen Rock und
darunter eine Badehose an. Mein Oberkörper war nackt.
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1. Tag der Flucht
Wir machten uns also auf den Weg. Nach einer halben Stunde kamen wir schon nach
Bournchour, von da an ging es in Richtung des Berges Pnom Nean Lern. Wir
entschieden uns nicht für den direkten Weg nach Thailand, weil der zwar kürzer,
aber auch viel gefährlicher war. Mit dem kurzen Weg hatte ich schon eine
schlechte Erfahrung gemacht.
Diesen kürzeren Weg würden wahrscheinlich viele Menschen wählen, die flüchten
wollten. Aus diesem Grund paßten die Roten Khmer in diesem Gebiet sicher
besonders gut auf. Der Weg, den wir einschlugen, ging nach Südsüdwest, er war
zwar nur um einiges länger, dafür aber sicherer.
An diesem Tag begann es bei Sonnenaufgang sehr stark zu regnen. Es wurde also zu
unserem Glück gar nicht so richtig hell. Mein Begleiter war an seinem früheren
Arbeitsplatz in Pailin sehr bekannt gewesen, und aus diesem Grund trug er einen
Hut, den er weit ins Gesicht gezogen hatte, damit man ihn nicht so leicht
erkennen konnte.
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Es war kurz nach Bourn-chour, da sahen wir an einem Bananenhain einen Mann im
Regen stehen. Er schien auf jemanden zu warten. Als wir an ihm vorbeigehen
wollten, fragte uns der Mann, ob wir wüßten, wo der Pnom Neang Lern sei, denn er
wolle mit einem Mann, auf den er hier warte, dorthin, um Obst zu suchen.
Obwohl wir es wußten, verneinten wir. 200 Meter weiter trafen wir eine etwa
30jährige Frau mit ihren zwei kleinen Kindern. Auch sie fragte uns: .,Brüder,
könnt ihr mir sagen, wo der Pnom Neang Lern ist?" Wieder antworteten wir mit
Nein. Die Frau tat mir sehr leid. Sie hatte nur ein kleines Stück Plastikhaut,
um sich und ihre Kinder vor dem strömenden Regen zu schützen.
Wir waren noch keine zwei Kilometer gegangen, da sahen wir von weitem schon
wieder wen. Aber diesmal war es gefährlich. Es waren schwarz gekleidete,
bewaffnete Kommunisten. Wir erspähten sie zum Glück, bevor sie uns sahen. So
konnten wir uns noch verstecken.
In dieser Situation bekam ich das erste Mal Durchfall. Im Lager waren viele
Menschen an Durchfall gestorben, ich hoffte, daß ich nicht die gleiche Krankheit
hatte, wahrscheinlich Cholera. Ich kannte ein Mittel gegen Durchfall, die
Blätter des Guavenen-Baumes. Diese kaute ich.
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Die Kommunisten waren inzwischen nicht zu sehen. Meine Füße begannen zu
schmerzen. Ich hatte keine Schuhe an, und auf dem Weg gab es viele Dornen. Wir
wanderten gerade durch dicht gesetzte Bananenbäume, der Regen hatte schon fast
aufgehört, als plötzlich ein etwa 40jährigerMann vor uns stand.
Er stand an einer Weggabelung und schien sich nicht entscheiden zu können, in
welche Richtung er gehen wolle. In dieser Zeit konnte man niemand trauen. Ich
verbarg mein Mißtrauen und redete den Mann mit Onkel an und fragte ihn, wohin er
wolle.
Er sagte mir, daß er zwei große Kanister Benzin mit einem Auto nach Prey Thom
bringen wolle, und fragte mich, ob ich wisse, in welcher Richtung Prey Thom
liege. Ich stellte mich dumm und verneinte.
Ich sah weder einen Benzinkanister noch ein Auto. Außerdem machte der Mann
keinen ehrlichen Eindruck. Wir gingen zum Schein in die falsche Richtung weiter.
Prompt kam er uns nach. Als er uns erreichte, fragte ich ihn, ob er wisse, wo es
hier Bananen gebe. Wir seien auf der Suche nach Obst.
Er erwiderte uns, daß wir da in die ganz falsche Richtung gingen. In diesem
Gebiet gebe es nur wenige Früchte. Aber in Richtung des Berges Pnom Neang Lern,
da gebe es eine Menge Bananen.
Genau das wollte ich erreichen. Er schickte uns in die Richtung, in die wir
ohnehin wollten. Wir bedankten uns vielmals und schlugen die neue Richtung ein.
Als wir wieder auf dem Weg zum Berg waren, stellten wir fest, daß kurz vor uns
fünf Erwachsene und zwei Kinder unterwegs sein mußten.
Es konnte sich nur um eine Gruppe handeln, die wir schon zweimal getroffen
hatten. Aber mein Freund erschrak! Da war doch die Sandale eines Kommunisten
dabei. Eine erwachsene Person trug eine „kommunistische" Sandale. Die
Kommunisten hatten eigene Sandalen, und zwar stellten sie die aus alten Reifen
her. Das heißt: Sämtliche Kommunisten trugen Sandalen mit einem Reifenprofil als
Sohle.
Aber in diesem Fall konnte ich meinen Begleiter beruhigen. Ich hatte bei meinem
ersten Zusammentreffen mit einer Frau aus dieser Gruppe bemerkt. daß sie eine
kommunistische Sandale trug. Ich wußte zwar nicht, wie sie in den Besitz dieser
Sandale gekommen war, aber eine Kommunistin war sie bestimmt nicht.
Plötzlich hörten wir vor uns Stimmen. Ich dachte zuerst, daß wir nun vielleicht
die Gruppe einholen würden, die wir schon zweimal getroffen hatten. Aber
vorsichtshalber versteckten wir uns am Rand des Weges. Wir hatten gut daran
getan. Denn es war nicht die erwartete Gruppe, sondern ein Trupp militärischer
Kommunisten. Sie aßen Früchte und schienen bester Laune zu sein. Nach 20 Minuten
war nichts mehr zu hören.
Wir gingen aber nicht direkt auf den Weg zurück, sondern zunächst neben der
Straße im hohen Gras. Dann erst gingen wir wieder auf dem Weg und bemerkten
gleich wieder die Spuren der uns schon bekannten Gruppe. Ich dachte, daß die
Kommunisten eigentlich auch die Spuren hätten sehen müssen. Aber vielleicht
dachten sie, es seien harmlose Obstsucher, oder sie sahen die kommunistische
Sandale.
In nicht allzu weiter Entfernung würde der Dschungel anfangen. Wir faßten den
Entschluß, bis dahin die Gruppe einzuholen und sie zu fragen, ob wir nicht mit
ihnen gehen könnten. Denn ich war mir ziemlich sicher, daß sie das gleiche Ziel
wie wir hatten.
Wir kamen wieder an eine Weggabelung. Hier gingen die Spuren der Gruppe
plötzlich in zwei Richtungen. Was hatten sie gemacht? Sie waren zuerst in die
falsche Richtung gegangen, dann genau in ihren Fußtritten, aber verkehrt
zurückgegangen und hatten dann ihren Weg in die richtige Richtung fortgesetzt.
Damit wollten sie eventuelle Verfolger abschütteln, möglicherweise war dieses
Manöver auch an unsere Adresse gerichtet.
Im Ernstfall hätten sie aber damit mehr Schaden als Nutzen angerichtet. Denn sie
machten sich dadurch verdächtig. Ich wußte nun mit Sicherheit, daß diese Gruppe
nach Thailand fliehen wollte.
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Es war gegen drei Uhr, als uns in einer unübersichtlichen Kurve plötzlich ein
junger Mann aus dieser Gruppe entgegenkam. Wir erschraken, er noch mehr.
Verstecken konnte er sich nicht mehr, da wir ihn ja bereits gesehen hatten. Der
junge Mann hatte bei seinem letzten Rastplatz ein Werkzeug liegenlassen, er ging
noch einmal zurück, um es zu holen.
Mein Begleiter fragte gleich direkt: „Wir haben das gleiche Ziel wie ihr. Können
wir mit euch gehen?" Der junge Mann reagierte überrascht, er hatte uns für
kommunistische Spitzel gehalten. Er meinte, daß er das nicht selbst entscheiden
könne. Da müßten wir seinen Bruder fragen.
Der Bruder war einverstanden. Mit Bruder meinte der junge Mann den 35jährigen
Mann, den wir schon zweimal getroffen hatten. Dieser Mann war auch der Gatte der
Frau mit ihren zwei kleinen Kindern. Ein Junge und ein Mädchen, der Junge war
sechs Jahre, das Mädchen drei Jahre alt. Ferner gehörten dieser Gruppe noch drei
ledige Männer an, die aber mit der Familie nicht verwandt waren.
Die Gruppe akzeptierte uns unter anderem deshalb, weil ihnen mein Begleiter als
Beamter des alten Regimes bekannt war. Wir konnten also keine Kommunisten sein.
Einer der ledigen Männer kannte sich in diesem Gebiet sehr gut aus, ein großer
Vorteil.
Am späten Nachmittag kamen wir an einem wahren Prachtstück von Bananenbaum
vorbei. Er war ganz voller Früchte, ein sicheres Zeichen, daß hier schon einige
Zeit niemand gegangen war.
Trotzdem verließen wir nun den Weg und schlugen uns so durch. Wir waren schon am
Rand des Dschungels. Wenn wir erst einmal im Dschungel waren, hatten wir mehr
Deckung und somit auch mehr Sicherheit.
Den ganzen Tag mußten wir uns auf Geräusche konzentrieren, auf Giftschlangen und
andere Tiere achten. Zudem wußten wir die ganze Zeit nicht, ob uns nicht
irgendwo die Roten Khmer auflauerten. Es stellte sich heraus, daß der 24jährige
Mann, der gute Ortskenntnisse besaß, außerdem den Weg nach Thailand genau
kannte. Er meinte, daß es etwa 60 Kilometer bis zur Grenze nach Thailand seien.
Es wurde Abend. Der Dschungel war schon dichter, als wir unerwartet an eine noch
frische Feuerstelle kamen. Der Familienvater meinte, daß dies möglicherweise ein
Beobachtungsposten der Kommunisten sei und wir uns schleunigst wieder entfernen
sollten.
Es war schon fast finster, als wir unser Nachtlager aufschlugen. Die Frau mit
den beiden Kindern schlief gleich ein, wir Männer unterhielten uns mit
gedämpfter Stimme noch bis spät in die Nacht. Neben unserer Schlafstelle floß
ein kleiner Bach. Wir hatten also Wasser, und zudem hatte der Bach noch eine
kleine Mulde geformt, in der wir, ohne gesehen zu werden, Bananen kochen
konnten.
2. Tag der Flucht
Am Morgen, es graute erst, wollten wir weiter. Der Familienvater hatte schlecht
geträumt. Er träumte, daß wir alle schon an der Grenze seien, aber noch über
eine Brücke gehen mußten, um nach Thailand zu gelangen. Die Ledigen waren schon
hinübergegangen, aber als er mit seiner Familie hinüber wollte, stürzte die
Brücke vor seinen Augen zusammen.
Da er abergläubisch war, interpretierte er den Traum so, daß es ihm und seiner
Familie nicht gelingen werde, die Flucht nach Thailand zu schaffen. Er wollte
umkehren. Erst nachdem ich lange auf ihn eingeredet hatte, ging er mit uns
weiter.
Obwohl meine Füße schon geschwollen waren, trug ich an diesem Tag den 6jährigen
Jungen auf meinem Rücken. Dabei verletzte er sich an einem Dornenstrauch im
Gesicht. Der Junge wollte weinen, aber sein Vater flüsterte energisch und drohte
ihm gleichzeitig mit der Faust: „Still!" Der Junge weinte lautlos, die Tränen
kullerten ihm über die Wangen.
Obwohl der Dschungel sehr dicht war und man die Sonne kaum richtig sah, konnte
man sich am Fallen des Schattens orientieren, also die Himmelsrichtung
bestimmen.
Zu Mittag aßen wir Reis mit Salz. Diesen Reis hatten wir am frühen Morgen
gekocht, als es noch dunkel war, so daß niemand den Rauch sehen konnte. Zu
Mittag wäre es zu riskant gewesen.
3. Tag der Flucht
An diesem Tag gingen uns die Bananen aus. Zudem hatten wir
Orientierungsschwierigkeiten, denn es war bewölkt. Das machte es notwendig, daß
ein Mann unserer Gruppe, der ehemalige Soldat, immer wieder auf einen hohen Baum
stieg, um sich zu orientieren.
Mittag war es, und wir wollten gerade Pause machen, als wir unerwartet auf eine
große freie Fläche mitten im Dschungel stießen. Die Wiese war mit sehr hohem
Gras bewachsen. Dieses Gras war sehr scharf, wenn man darauftrat, stach es wie
Dornen.
Als wir um 13 Uhr weiterzogen, begann es plötzlich wieder einmal stark nach Aas
zu stinken. Der Grund für den Gestank war eine verweste Leiche, die im Gras lag.
Es schien uns zu gefährlich, diese Richtung weiter zu gehen, und so entschlossen
wir uns, vorübergehend die südliche Richtung zu wählen.
4. Tag der Flucht
Als wir am nächsten Morgen weiterwanderten, bemerkten wir, daß in der Nacht ganz
in unserer Nähe jemand vorbeigegangen sein mußte. Es waren Spuren da, die wir am
Vorabend noch nicht gesehen hatten. Es handelte sich dabei, wahrscheinlich auch
um Flüchtlinge. Denn es gab keine Schuhsohlenabdrücke, sondern die Spuren
zeigten, daß die Leute, die da vorübergingen, barfuß gewesen waren.
Die Reisvorräte begannen zu Ende zu gehen, Verzweiflung machte sich breit. Es
war ein großes Glück, daß wir im Dschungel eine Art Gemüse fanden, das sich zum
Essen eignete. Am Abend, wir waren sehr müde, wollten wir das gefundene Gemüse
kochen. Als ich meinen Bekannten um das Gemüse bat, tat er ganz erstaunt und
meinte, daß er das schon vor einiger Zeit weggeworfen habe.
Ich fragte ihn verärgert und lautstark, warum er denn das getan habe. Er
reagierte zornig. Sein Messer zük-kend, fragte er mich, ob ich hier an diesem
Ort schlafen wolle? Damit meinte er, ob er mich umbringen solle.
„Wenn du willst, warum nicht?" war meine auch nicht sehr bedachte Antwort. Das
war der Beginn von Spannungen zwischen ihm und den anderen Mitgliedern der
Gruppe.
5. Tag der Flucht
Am Vormittag dieses Tages mußten wir einen stark begangenen Weg überqueren.
Einen Weg zu überqueren war immer ein Risiko. Zu jeweils zwei und zwei liefen
wir schnell über den Weg. Diesen Mittag meinte der Familienvater, daß wir einmal
den Reisvorrat meines Bekanntes angreifen sollten. Bis jetzt hatten ich und mein
Bekannter
ausschließlich von den Vorräten der Gruppe gelebt.
Es stellte sich heraus, daß seine Vorräte nur für ein knappes Mittagessen der
Gruppe reichte. Am Nachmittag bestiegen drei von uns einen Hügel. Als wir oben
waren, hörten wir das Geräusch eines Traktors, der nicht ansprang. Da wir den
Ursprung des Geräusches nicht sehen konnten, stiegen wir alle drei auf einen
mächtigen Baum — und was sahen wir?
Wir waren in der Nähe von Pailin, dort also, wo ich zur Zeit der Machtübernahme
durch die Kommunisten gelebt hatte. Das zeigte uns, daß wir in die richtige
Richtung gegangen waren, denn das Lager Kwauv lag nördlich von Pailin. Wir sahen
auch, daß wir unsere Richtung vorübergehend ändern mußten, wollten wir nicht in
dichtbesiedeltes Gebiet kommen. Unsere Gruppe schlug also die westliche Richtung
ein, später jedoch gingen wir wieder Richtung Südsüdwest.
Gegen Abend begann es, stark zu regnen. Es war sehr schwierig, Feuer zu machen,
aber es gab noch etwas trockenes Holz, und die Frau hatte noch ein bißchen
Plastikhaut, so daß wir das Feuer vor dem Regen schützen konnten. Kaum brannte
das Feuer richtig, hörten wir aus nächster Nähe: .,Ho, ho!" Offenbar hatten wir
unser Nachtlager unmittelbar neben einer Straße aufgeschlagen. Sofort löschten
wir das Feuer und verhielten uns ganz ruhig. Erst nach einiger Zeit wagten wir
wieder zu flüstern.
Sollten wir hier in unmittelbarer Nähe eines Wegs schlafen oder nicht? Wir
entschlossen uns, ein Stück in die andere Richtung zu gehen — bei schlammigem
Boden und völliger Dunkelheit. Als wir uns sicherer fühlten, legten wir uns an
einer etwas trockeneren Stelle wieder nieder.
Kaum lagen wir, hörten wir wieder ein Geräusch, ganz nahe, vielleicht 20 Meter
von uns. Jemand schlug mit einem Holzstück auf ein anderes Holzstück. Wir wußten
weder, wer das war, noch wie viele es waren. Wir mußten uns ruhig verhalten.
Einer aus der Gruppe machte den Vorschlag, den oder die Urheber dieses
Geräusches zu töten und die Vorräte an uns zu nehmen. Die anderen waren dagegen.
Mein Bekannter hatte, absichtlich oder unabsichtlich, ich weiß es nicht, sein
Messer in die Nähe meiner Füße gelegt. Als ich in der Nacht meine Füße
ausstreckte, schnitt ich mich kräftig in die große Zehe. Die Wunde war nicht
groß, aber sie verursachte mir beim Gehen Schmerzen, da ich barfuß ging.
Während der Nacht biß ein Tausendfüßler, der in den Tropen bis zu 30 Zentimeter
lang werden kann, das kleine Mädchen. Diese Bisse sind sehr schmerzhaft. Das
Mädchen begann zu weinen. Das veranlaßte meinen Bekannten zu sagen, daß wir alle
bald sterben würden, wenn dieses Kind keine Ruhe gebe. Er äußerte auch die
Meinung, daß es besser sei, die Kinder zu töten, da es sein könnte, daß wir
durch die Kinder entdeckt würden.
6. Tag der Flucht
Noch vorm Morgengrauen verließen wir den Platz, zum Kochen nahmen wir uns keine
Zeit. Dabei sahen wir den Tausendfüßler, der offenbar das Mädchen gebissen
hatte. Er war allerdings nur etwa sieben Zentimeter lang. Gegen acht Uhr kamen
wir wieder an einen Weg. Auf der gegenüberliegenden Seite war ein
Bambuswäldchen, das aber nur spärliche Versteckmöglichkeiten bot. Außerdem lagen
am Rand des Weges viele kaputte Mopeds.
Nun standen wir vor der Aufgabe, einen Fluß zu durchqueren. Es stellte sich
heraus, daß er nicht tief war, das Wasser ging uns nur bis zur Brust. Der Vater
trug den Sohn, die Mutter ihre Tochter hinüber. Mein Bekannter trug die
inzwischen leeren Wasserbehälter, die er sich um die Hüften gebunden hatte.
Diese wirkten wie ein Schwimmreifen, so daß er, als das Wasser bis an die Hüften
stieg, den Halt unter seinen Füßen verlor und ein Stück abtrieb. Aber er konnte
sich wieder fangen.
Am anderen Ufer angelangt, meinte der Familienvater, daß wir trotz unseres
Hungers glücklich sein könnten. Denn seiner Meinung nach würden wir, da jetzt
Mittag war, bis drei Uhr in Thailand sein. Er war schon früher einmal in diesem
Gebiet gewesen. So verkochten wir unsere gesamten Vorräte. Anschließend waren
wir das erste Mal nach vielen Tagen satt.
Es wurde drei Uhr, es wurde vier Uhr, es wurde fünf Uhr, aber in Thailand waren
wir noch immer nicht. In dieser Nacht hörten wir zum erstenmal Tiger. Das
Brüllen der Raubkatzen versetzte besonders die Kinder in Angst. Wir legten uns
eng zusammen, hätten aber nicht gewußt, was wir tun sollten, wenn die Tiger
nähergekommen wären.
7. Tag der Flucht
Beim ersten Morgengrauen, es war praktisch noch dunkel, machten wir uns auf den
Weg. Nur schnell, schnell nach Thailand in Sicherheit! Aber als es Mittag wurde,
waren wir wieder bei unserem Nachtlager, das heißt, daß wir den Vormittag über
nur im Kreis gegangen waren. Wir mußten bis 13 Uhr warten, dann brach die Sonne
durch, und diesmal gaben wir besser acht. Wir stießen auf einen alten Forstweg.
Der Hunger war groß. Als wir an einem Baum vorbeikamen, der lauter rote, kleine
Früchte trug, überlegten wir nicht, ob man sie überhaupt genießen konnte. Wir
aßen sie, sie schmeckten sehr sauer, aber wir leben heute noch. Abermals wurde
es Abend, und wir waren noch nicht in Thailand. Wieder kein Abendessen.
8. Tag der Flucht
Ohne Frühstück ging's weiter. Auch Wasser hatten wir keins mehr. Der Forstweg
machte sehr viele Kurven, einmal links, einmal rechts, es war sicherlich nicht
der direkteste Weg. Aber wir ersparten uns dadurch das mühevolle Durchschlagen
durch den Dschungel.
Es wurde wieder Abend. Wir hatten nichts gegessen und nichts getrunken. Der
Durst plagte einen aus unserer Gruppe so sehr, daß er seinen eigenen Urin trank.
In dieser Nacht begann es zu unserem Glück zu regnen. Den Durst konnten wir
stillen, gegen den Hunger konnten wir jedoch nichts weiter machen, als Blätter
zu kauen.
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9. Tag der Flucht
An diesem Tag waren wir alle schon sehr erschöpft. Der Familienvater hatte
aufgehört, von Thailand zu reden. Wir hatten keine Kraft mehr. Die Kinder wurden
abwechselnd getragen, die Wasserbehälter auch. Nur mein Bekannter erklärte sich
nicht bereit, etwas zu tragen, weil er schon zu schwach war.
10. Tag der Flucht
Die vergangene Nacht hatten wir am Fuße eines Berges verbracht, es kostete uns
äußerste Kraftanstrengung, diesen Berg hinaufzugehen. Von Baum zu Baum hielten
wir uns fest. Erst zu Mittag waren wir auf dem höchsten Punkt. Von dort aus
konnte man Thailand sehen, das Land, das für uns Freiheit bedeutete. Wir
schätzten, daß die Grenze nur noch ein, zwei Kilometer entfernt sein konnte. Wir
marschierten den Berg hinunter, Richtung Thailand. Unten angekommen, sahen wir
eine Hütte. Es stank penetrant nach Aas.
Zuerst hatten wir nur eines im Sinn: Wo eine Hütte ist, da ist auch ein Feld.
Aber als wir uns der Hütte vorsichtig näherten, sahen wir die Ursache für den
Gestank. Leichen, eine ganze Menge Skelette, aber auch halbverweste Leichen.
Voller Angst suchten wir das Weite. Wir liefen, soweit das unsere Kräfte
zuließen.
wir zu der Straße, die wir gehört hatten. Wir wußten nicht, sollten wir nun nach
rechts oder links gehen. Während wir noch überlegten, fiel mein Blick auf eine
Fußspur auf der Straße. Es war der Fußabdruck einer kommunistischen Sandale.
Hier waren vor ganz kurzer Zeit zwei Personen gegangen, die solche Sandalen
trugen. Und jetzt erst schauten wir uns ein wenig um. Auf der Straße gab es
Schilder. Aber kambodschanische!
Wir waren also noch in Kambodscha. Wie vom Blitz getroffen standen wir da. Im
nachhinein wurde mir übel, wenn ich daran dachte, welches Risiko wir eingegangen
waren, als wir lauthals singend durch den Dschungel gingen.
Wir schlugen uns weiter durch den Dschungel. Noch am gleichen Abend hörten wir
das Rauschen eines großen Flusses. Dieser Fluß war nicht sehr breit, aber doch
ziemlich tief und vor allem reißend. Aber eines stand fest: Das war der Fluß an
der Grenze zu Thailand.
Wir mußten versuchen, den Fluß irgendwie zu überqueren. Aber die Frau und die
Kinder konnten nicht schwimmen. Ein Mann aus unserer Gruppe durchschwamm den
Fluß als Vorhut. Inzwischen schnitten die zwei anderen Männer einige dicke
Bambusstangen ab, um daraus eine Art Floß zu bauen. Ich besah mir inzwischen die
Umgebung etwas näher und bemerkte, daß es an diesem Ort viele Spuren gab.
Offensichtlich wurde das Gebiet von den Kommunisten gut bewacht.
Das Floß war fertig. Es bestand aus mehreren dicken Bambusstangen, die aber
keine sehr große Tragfähigkeit besaßen. Der Frau wurde durch das Floß
ermöglicht, sich festzuhalten. Außerdem wurde unser Gepäck auf das Floß gelegt.
Jetzt gab es aber noch ein Problem: die Kinder. Der Vater konnte seinen Sohn auf
seinem Rücken durch den Fluß bringen, aber wer würde die Tochter hinüberbringen?
Alle waren sehr erschöpft, es war nicht einmal sicher, ob sie es selbst schaffen
würden.
Ich erklärte mich bereit, das Mädchen auf meinem Rücken hinüber zu bringen. Der
Vater meinte, daß ich dazu schon zu schwach sei, und außerdem seien meine Füße
sehr angeschwollen. Aber ich überzeugte ihn davon, daß ich ein guter Schwimmer
sei. Schließlich gab er nach, denn es dunkelte schon.
Das Mädchen wurde mit einem Stück Stoff auf meinen Rücken gebunden. Außerdem
sagte ich ihm, daß es sich fest um meine Brust klammern solle. „Hast du Angst?"
fragte ich. „Nein, Onkel", sagte das Mädchen.
Als ich die ersten Schwimmbewegungen machte, merkte ich erst, wie schwach ich
war. Wir kamen gleich zu Anfang ein paarmal unter Wasser. Ich suchte verzweifelt
nach irgend etwas zum Festhalten. Wie durch ein Wunder packten meine Hände einen
kleinen Baumstamm, der zwar schon ziemlich voll Wasser war, aber er trug noch
ein bißchen. Ich wollte mich nach den Eltern des Mädchens umsehen, aber ich sah
sie nicht mehr.
Hatte das Mädchen seine Eltern und seinen Bruder verloren? Plötzlich war einer
der ledigen Männer neben mir. Auch er kämpfte gegen das reißende Wasser. Wo die
Eltern des Kindes seien, rief ich ihm zu. Er gab mir zu verstehen, daß sie
ertrunken seien. Ich konnte nicht darüber nachdenken, denn wenn ich mich zu
lange treiben ließ, würde ich einen Wasserfall hinunterstürzen, den man schon
die ganze Zeit rauschen hören konnte.
Wieder kam ich unter Wasser. Die Kleine wimmerte: „Onkel, Onkel, ich kann nicht
mehr." Unter Aufbringung meiner letzten Kräfte erreichte ich das rettende Ufer.
Kaum hatte ich festen Boden unter den Füßen, hörte ich zu meiner großen
Erleichterung, daß die Mutter des Mädchens verzweifelt den Tod ihrer Tochter
beklagte. Sie dachte, daß ich zusammen mit dem Mädchen in den Fluten umgekommen
sei.
Auf dieser Seite des Flusses war kein Dschungel, aber dafür gab es in einiger
Entfernung ein Maisfeld. Wir stillten unseren ärgsten Hunger mit rohem Mais.
Anschließend kochten wir auch noch welchen. In einer Hütte, die neben dem Feld
stand, sahen wir Zündhölzer liegen — mit thailändischer Beschriftung! Wir waren
also wirklich in Thailand.
Am nächsten Morgen konnte ich nicht mehr gehen, so sehr waren meine Füße
geschwollen. Ich wurde beim Gehen gestützt. Als wir zur Straße kamen, bemerkten
wir die andere Atmosphäre hier in Thailand. Hier war Leben auf der Straße, Autos
fuhren, die Leute machten auch keinen bedrückten Eindruck wie in Kambodscha.
Wir wurden freundlich aufgenommen. Leider konnten wir uns in Thailand nicht
lange frei bewegen, es gab für die Flüchtlinge aus Kambodscha ein Lager im
Gebiet von Pong Nam Ron.
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Die Lebensmittel dort wurden uns zur Verfügung gestellt, die Unterkünfte mußten
wir selbst bauen. Aber das war damals für uns alles nicht so wichtig.
Ausschlaggebend war, daß wir in Sicherheit und Freiheit waren.
Nach fünf Monaten Lageraufenthalt flog ich auf eigenen Wunsch nach Österreich.
Vier Länder hatten zur Auswahl gestanden: Frankreich, die USA, Australien und
eben Österreich. Ich entschied mich für Österreich.
Am 1. Dezember 1975 kam ich auf dem Flughafen Wien-Schwechat an. Es war zu
dieser Jahreszeit sehr kalt in Österreich. Auch von den Bäumen war ich
enttäuscht, sie hatten keine Blätter.
Ende