FAZ 14.12.1991
Erhard Haubold
Lächeln und töten, wir können beides
Ein zerbrechlicher Friede in Kambodscha
"Wenn meine Frau neben mir schläft, träume ich nicht. Wenn ich zuviel träume,
werde ich einfach verrückt." Das hat Hun Sen gesagt, der Regierungschef in Phnom
Penh. Wie er fühlen und fürchten viele Kambodschaner in diesem Jahr des
„Friedens für Indochina". Die blutige Vergangenheit drückt, aber wiederum wird
es kaum Zeit geben, sie aufzuarbeiten: schon stehen die Kräne südkoreanischer
Baufirmen und die Investoren aus Singapur vor der Tür. In die Zukunft blickt man
mit Erleichterung - über das vorläufige Ende des Bürgerkriegs -, aber auch mit
Angst. So viel ist geschehen in den paar Monaten seit der Pariser Konferenz,
seit den geheimen Treffen und der beginnenden Versöhnung zwischen den
kommunistischen Rivalen China und Vietnam. „Die beschlossen haben", so Norodom
Siha-nouk, „Kambodscha an mich zurückzugeben". Der Prinz, den auch Kommunisten „Samdech
Euv" nennen, einen „großen Herrn" oder „Papa Prinz", ist wieder in Phnom Penh.
Aber auch der Chefideologe und der schlimmste Folterer der Roten Khmer sitzen
mit ihm und Hun Sen im „Obersten Nationalrat", der Kambodscha zusammen mit den
Vereinten Nationen bis zu den Wahlen 1993 verwalten soll.
Mehr als zehn Jahre lang sind die Menschen in den achttausend Dörfern
Kambodschas jeden Tag um fünf Uhr mit staatlicher Lautsprecher-Propaganda
geweckt worden: ständige Erinnerung an Pol Pot und die Grausamkeiten seines
Regimes der Roten Khmer von 1975 bis 1979. Dieses hatte den Einmarsch der
Vietnamesen und die Einsetzung der Regierung Hun Sens zur Folge. Jetzt zieht
sich Vietnam zurück, geschwächt vom dreißigjährigen Krieg gegen Frankreich,
Amerika, China und die Guerrilla Pol Pots in Kambodscha. Moskau läßt seine
riesige Botschaft in Phnom Penh verfallen. Hun Sen redet lieber von der
Marktwirtschaft und hat die Kommunistische Partei in „Volkspartei Kambodschas"
umbenannt. Auf den Boulevards von Phnom Penh, wo die Roten Khmer nur
Bananenpalmen hinterlassen hatten, knattern japanische Motorräder und kaufen die
Fahrer feiner Marken wie Mercedes und Peugeot den Treibstoff in Fantaflaschen.
Der Buddhismus ist wieder Staatsreligion, die christliche Minderheit darf sich
ungehindert entfalten. „Imperialistische Klassenfeinde" von einst, voran
Amerika, suchen in der mit neunhunderttausend Menschen bereits überfüllten Stadt
nach geeigneten Botschaftsgebäuden. Und die heimgekehrten Knechte Pol Pots, der
Chefideologe und der Folterer, fordern ungerührt, „die Vergangenheit zu
vergessen". Die Erinnerungen an ihren Genozid, der eine Million Khmer das Leben
kostete, sollen gelöscht werden. Die Gedenkstätte im früheren Gymnasium Tuol
Sleng, wo zwanzigtausend Menschen zu Tode gequält wurden, möge die Regierung
doch schließen; und auch gleich die vielen Totenschädel beerdigen, die an
mehreren Orten ausgestellt sind.
Eine perverse Entente
Wie fragil der vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen vermittelte
Kambodscha-Frieden ist, hat das Fernsehpublikum in der ganzen Welt bei der
Rückkehr Khieu Samphans gesehen, des Chefideologen Pol Pots. Die Demonstrationen
gegen ihn auf dem Weg vom Flughafen in die Stadt waren inszeniert von einer
Regierung, die aus den Wahlen 1993 als Sieger hervorgehen und die Roten Khmer
vernichtend schlagen will. Der Höhepunkt des Dramas im Gästehaus aber, als Khieu
Samphan beinahe gelyncht worden wäre, könnte echtem und verständlichem Volkszorn
entsprungen sein. Inzwischen hatten nämlich junge Waisen aus den nahegelegenen
Klöstern und Schulheimen die Führung des Mobs übernommen - Kinder jener Frauen
und Männer, die unter Pol Pot erschlagen worden sind (weil Gewehrkugeln
angeblich zu schade waren). Diese Opfer wurden damals von der Stadt aufs Land
getrieben und gingen bei der Zwangsarbeit an Hunger und Seuchen elend zugrunde;
sie mußten auf den „Killing Fields" sterben, nur weil sie eine Brille trugen.
Die theoretischen Grundlagen dieses verheerenden Revolutionsexperiments für das
„Jahr Null" stammten von dem in Paris promovierten Khieu Samphan.
Khieu Samphan wurde 1976 Präsident des „reinen" Kommunistenstaats
„Demokratisches Kampuchea", der mächtige Mann freilich war (und ist) der
Parteichef Pol Pot. Die schwarze Mao-Uniform hat Khieu längst mit dem
Straßenanzug vertauscht. Man könnte in dem sechzig Jahre alten Mann einen
Berufsdiplomaten vermuten. Aber wie antwortet er auf die Frage nach dem
Schicksal seiner Mutter, die ebenfalls zu Tode geschunden wurde? Oder auf die
Frage, ob die Beinhäuser Kambodschas die Reste von einer Million oder von zwei
Millionen Ermordeten bergen? „Imperialistische Lügen", antwortet Khieu Samphan
dann immer. Ein Mann mit Roboteraugen, ein Partisan zum Vorzeigen, der „Pudel
Pol Pots", so der Indochina-Fachmann Stephen Hedder. Mit gelegentlichen
Einladungen zum Abendessen habe ihn Khieu in der „schlimmen Zeit" aus dem
Hausarrest geholt, ihn möglicherweise vor dem Tod bewahrt, erzählt Sihanouk.
Aber auch ein gutes Dutzend Kinder und Enkel des Prinzen sind zwischen 1975 und
1979 zu Tode gekommen.
Beinahe jeder der acht Millionen Khmer hat seine persönliche Geschichte zu
erzählen aus den Jahren unter Pol Pot; eines oder mehrere Familienmitglieder hat
fast jeder verloren. Eine Frau in Phnom Penh berichtet, daß sie die „Kader" der
Roten Khmer hat bestechen müssen, damit sie ihren erschlagenen Mann und ihre
verhungerten Kinder beerdigen durfte. Für einen Mann, der seine gesamte Familie
auf den „Killing Fields" verloren hat, bedeutet Pol Pot „Tod, Feuer und
Zerstörung". Und diese Menschen sollen die Vergangenheit einfach „vergessen"?
„Warum zwingt uns die internationale Gemeinschaft, den Roten Khmer einen Platz
in der Regierung einzuräumen?" fragt ein anderer Überlebender des Genozids. Wie
Hohn muß es auf ihn und andere Kambodschaner wirken, wenn Amerika heute vor den
Leuten Pol Pots warnt und wenn Präsident Bush 55 besorgten Senatoren versichert,
daß die Steinzeitkommunisten den Friedensprozeß nicht zu einer Rückkehr an die
Macht in Phnom Penh mißbrauchen werden. Denn es waren Amerika und die meisten
anderen westlichen Länder, die es Anfang 1979 zugelassen haben, daß die schwer
geschlagene Guerilla Pol Pots Zuflucht in Thailand fand und mit internationaler
Nahrungshilfe in den Flüchtlingslagern aufgepäppelt und mit Waffen aus China
wieder aufgerüstet wurde.
Zu der „perversen Entente zwischen Washington und Peking" (The Guardian) kam es,
weil Vietnam „bestraft" werden sollte: es hatte Amerika 1975 seine erste
Niederlage in einem Krieg beigebracht und die „Lektion", die ihm Peking 1979
erteilen wollte, in eine demoralisierende Abreibung für die große chinesische
Volksarmee verwandelt. Der Horror gerade unabhängig gewordener
Entwicklungsländer vor nachbarlicher Aggression - der sich Hanoi zweifelsohne
schuldig gemacht hat - verhalf dem „Demokratischen Kampuchea", einem
Mörderregime, auch noch zehn Jahre nach seiner Vertreibung, in den Vereinten
Nationen Sitz und Stimme zu behalten. Kissinger und seine Diplomaten erzählen
gern, wie sie in den Wandelgängen am Hudson den Barbaren Pol Pots, die immerzu
Hände drücken wollten, aus dem Wege gingen - durch einen raschen Schritt in die
Herrentoilette. Diese Devise hat auch Charles Twining Jr., neuer amerikanischer
Repräsentant in Phnom Penh, an seine Mitarbeiter ausgegeben.
„Staaten sind kalte Monster", sagt Prinz Sihanouk zu dem Thema „Zynismus in der
internationalen Politik". Er ist mitschuldig daran, daß die Kambodschaner nach
vier Jahren Völkermord auch noch ein Dutzend Jahre Bürgerkrieg haben durchleiden
müssen. Wäre der ehemalige Gottkönig der Khmer Anfang 1979 nach Phnom Penh
zurückgegangen - möglicherweise hätten die Vietnamesen ihre Truppen bald wieder
abgezogen und ein „neutrales" Kambodscha zugelassen. Aber der Prinz flüchtete
über China nach New York, wo er die „Befreier" aus Vietnam ebenso verdammte wie
das Blutbad der Roten Khmer. Er ersuchte um politisches Asyl und verzichtete auf
seine Macht, als Washington ihn darum bat und China mit einer Exil-Residenz und
dreihunderttausend Dollar im Jahr lockte.
Unregelmäßige Spenden empfing der Aristokrat, der weder über Schweizer
Bankkonten noch französische Villen verfügt, aus Nordkorea und, nach eigenen
Angaben, vom CIA, aus Japan, Thailand und Frankreich. 1981 ließ er sich, nicht
zuletzt von China, zur Führung einer Guerilla-Organisation überreden, in der die
Mörder seiner Kinder die Hauptrolle spielten.
Zu der Kampfkoalition, die als „Demokratisches Kampuchea" firmierte, gehörten
drei Guerillafraktionen: die Roten Khmer, die Armee Nationale Sihanouks (ANS)
und die Befreiungsfront der Khmer (KPNLF) des ehemaligen Premierministers Son
Sann. Als Kämpfer ernst zu nehmen waren nur die Roten Khmer, während die vom
Westen bevorzugt unterstützten Partisanen Sihanouks und Son Sanns sich einen
Namen als Schmuggler und Gangster machten. In den heimatlichen Dörfern, die sie
temporär besetzen konnten, wurde hinterher über Vergewaltigungen und
Hühnerdiebstahl geklagt, nicht über „politische Arbeit". Nicht selten kämpften
die drei Fraktionen mehr gegeneinander als gegen die vietnamesischen Besatzer.
Die Mörderbande des Pol Pot
Von Gewissensbissen geplagt, sandte Sihanouk aus dem Exil in Nordkorea an
Freunde und Journalisten in aller Welt ein Telegramm mit fünftausend Wörtern,
ein Dollar das Wort, das Berühmtheit erlangt hat. Seit 1979, so behauptet der
Prinz darin, habe Amerika insgeheim die Roten Khmer unterstützt und ihn zu
gleichem gezwungen - weil nur sie etwas ausrichten könnten im Kampf gegen die
vietnamesischen Besatzer und weil auf die anderen Parteien in der
Widerstandskoalition kein Verlaß sei.
Seinen einstigen „Beschützer" Khieu Samphan nannte er einen „Schlächter", der
aber auch ein „Patriot" sei. Und oft redete er sich mit der Formel heraus, daß
er lieber von einem Roten-Khmer-Tiger als von einem vietnamesischen Krokodil
verspeist werden möchte. Wohl war dem Aristokraten nie bei diesem Seiltanz; dazu
gehörte auch, daß etwa dreihunderttausend Flüchtlinge an der thailändischen
Grenze als „Sklaven" (Sihanouk) mißbraucht wurden, nämlich als Waffenträger,
Nachwuchs- und Versorgungsbasis für die Guerrilla und als „Bevölkerung" für die
Phantomregierung „Demokratisches Kampuchea". Immer wieder gab er einen seiner
Posten auf oder drohte damit, wenn die Verletzungen der Menschenrechte durch die
Leute Pol Pots zu stark wurden. Sekt trinkend und mit Pokerface nahm der Prinz
im „befreiten" Niemandsland zwischen Thailand und Kambodscha die
Beglaubigungsschreiben ausländischer Diplomaten entgegen. Als vietnamesische
Kanonen die Scharade zerfetzten, flüchtete der „kleine Prinz" im Schlafanzug. „Qu'il
est mignon", sagten die Frauen französischer Beamter über ihn; in ihm vermuteten
sie eine willfährige Marionette zur Verlängerung der Kolonialherrschaft. Sie
unterschätzten Sihanouk ebenso wie später die Amerikaner, deren Emissäre sich
über die erotischen und die anderen Leidenschaften, das Jazzspiel, die Filmerei
und die schnellen Wagen des einstigen Monarchen lustig machten. Sie sollten sich
nicht schon wieder in die Angelegenheiten der Kambodschaner einmischen, hat er
dieser Tage den Diplomaten aus Washington geraten.
Nur ein Shakespeare könne die „Tragische Geschichte Norodom Sihanouks, des
Königs von Kambodscha", schreiben, so der Prinz. Er hat nun seinen letzten
Lebensabschnitt begonnen; mit siebzig Jahren und an Diabetes leidend, ist er in
die Heimat zurückgekehrt: er will nicht das erste Mitglied der Angkor-Dynastie
sein, das im Exil stirbt; er will seine Rolle in der Geschichte Kambodschas
rechtfertigen; er will sich um seine „kleinen Leute" kümmern, die einfachen
Khmer, die armen Bauern. Für sie ist er immer noch ein Gottgleicher, der mit
einem Besuch zur rechten Zeit für Reis und Regen sorgen und eine Überschwemmung
bändigen kann. Die besser gebildeten Angehörigen der Mittelklasse freilich
erinnern sich an die historische Schandtat Sihanouks: er hat von den brutalen
Plänen der Roten Khmer gewußt, als diese noch im Dschungel waren und
amerikanischen Bomben trotzten, und er hat seine Landsleute nicht gewarnt, der
Friedensplan der Vereinten Nationen basiert auf seinen Vorschlägen:
De-facto-Anerkennung der Administration Hun Sens (den er lange eine „Marionette
Vietnams" geschimpft hat) durch den Westen und China, Rückkehr der Roten Khmer
nach Phnom Penh unter dem Schirm der Vereinten Nationen, Einstellung der
chinesischen Waffenlieferungen an die Guerrilla, „Demobilisierung" der drei
Partisanenfraktionen und der Streitkräfte Hun Sens um siebzig Prozent, freie
Wahlen im Jahr 1993. Die Fortsetzung des Bürgerkriegs hätte die Leute Pol Pots
wieder an die Macht bringen können, 180000 vietnamesische Soldaten konnten sie
in einem zehnjährigen Kampf nicht besiegen. Das sagt Australiens Außenminister
Evans, einer der Initiatoren des Friedensvertrags. Die Aussperrung der Roten
Khmer indessen wäre an ihren Gönnern in China gescheitert.
Sihanouk ist deshalb sogleich nach seiner Ankunft in Phnom Penh im vergangenen
Monat darangegangen, die Verbündeten von gestern, die Mörderbande des Pol Pot,
zu isolieren und den Kampf auf dem politischen Schlachtfeld zu gewinnen. Er
beschrieb sie als Monster, die vor ein internationales Kriegsgericht gehörten -
eine Ansicht, der sich führende Politiker in Amerika, England und Australien
angeschlossen haben. „Als Buddhisten sollten wir ihnen vergeben (für den Tod von
mehr als einer Million Zivilisten), aber wir werden uns auch noch in tausend
Jahren an ihre Verbrechen erinnern", sagt Sihanouk über die Roten Khmer. Er hat
Hun Sen, den er früher einen „einäugigen Verräter" nannte, als „Sohn" adoptiert,
und sein leiblicher Sproß Ranariddh will die Sihanoukisten-Fraktion in eine
Koalition mit der Regierung in Phnom Penh einbringen.
Sihanouk ist wieder Präsident, seine Absetzung 1970 durch Lon Nol (den der
amerikanische Geheimdienst unterstützt haben dürfte) sei unrechtmäßig gewesen,
wird einigermaßen fragwürdig argumentiert. So kommt es, daß Kambodscha derzeit
zwei Staatschefs hat (der andere heißt Heng Samrin, ein farbloser
kommunistischer Funktionär). Was die Roten Khmer sorgen und ärgern muß, ist die
Allianz zwischen Sihanouk und dem klugen Bauernsohn Hun Sen: Wer mit Namen und
Porträt Norodom Sihanouks in den Kampf ziehen kann, wird die Wahlen mit großer
Sicherheit gewinnen.
Um so schwerer wiegt der Fehler, den Hun Sen am 27. November begangen hat. Kaum
ein Beobachter in Phnom Penh zweifelt daran, daß die Demonstrationen gegen den
heimkehrenden Chefideologen Pol Pots von der Regierung geplant waren und dann
außer Kontrolle gerieten. Diplomaten und UN-Vertreter sind verärgert über die
Unterminierung ihrer langjährigen Bemühungen um einen Frieden in Kambodscha. Die
Roten Khmer könnten mit solchen und ähnlichen Vorfällen ihre Rückkehr zum
Guerillakampf begründen, für den sie „Waffen für sieben Jahre" gehortet haben
sollen. Vorerst freilich hält sie China bei der Stange, das sein Ansehen im
Westen verbessern und das Blutbad am Tiananmen-Platz vergessen machen will. Der
Vorfall zeigt auch, daß die Entwicklung in Phnom Penh der langsam arbeitenden,
weil unter Geldmangel leidenden UN-Maschinerie davonläuft. Von den bis zu
zwanzigtausend Blauhelmen, Inspektoren und Wahlhelfern, die an der größten
Operation in der Geschichte der UN (die Kosten dürften bis zu zwei Milliarden
Dollar betragen) teilnehmen sollen, sind erst ein paar hundert eingetroffen.
„Lächeln und töten, wir können beides", sagt Sihanouk über die „zwei Gesichter"
der Khmer und ihren „flexiblen" Charakter. Schon nennt er, eine Reaktion auf den
27. November, den neuen „Sohn" Hun Sen nur „zu fünfzig Prozent
vertrauenswürdig". Und mit weiteren Wandlungen, auf allen Seiten, muß man
rechnen. Die Führung in Phnom Penh ist nicht monolithisch, der starke Mann unter
den gewandelten Kommunisten ist Chea Sim, Vorsitzender der Nationalversammlung
und Nummer zwei im Politbüro (vor Hun Sen). Er soll Konzessionen an die Roten
Khmer (denen er einst ebenso angehört hat wie Hun Sen) ebenso skeptisch
gegenüberstehen wie dem in Paris ausgehandelten Friedensvertrag. Wird China sich
mit dem ungehemmten Kapitalismus in Phnom Penh und dem Verlust einer weiteren
kommunistischen Bastion abfinden? Hat Vietnam seine Pläne für eine
Indochina-Föderation (unter seiner Kontrolle) begraben?
Vermintes Gelände
Kambodscha braucht Geld. Seit 1975 hat es keinen Pfennig an westlicher
Entwicklungshilfe bekommen. Was die Sowjetunion, Vietnam, die DDR und andere
sozialistische „Bruderländer" hinterlassen haben, ist nur hohles Pathos. Das
Sozialprodukt soll erst drei Viertel des Stands von 1960 erreicht haben;
zuverlässige Wirtschaftsdaten gibt es nicht. Die Versorgung mit Wasser und Strom
funktioniert nicht einmal in der Hauptstadt Phnom Penh. Das „Straßennetz"
besteht zum größten Teil aus Sandpisten mit tiefen Schlaglöchern. Achtzig
Prozent der viertausend Brücken sind zerstört. Neunzig Prozent der Bevölkerung
leben von der Landwirtschaft, aber noch immer reicht die Reisernte in der
einstigen „Kornkammer am Mekong" nicht zur Selbstversorgung. Schon wegen der
beschränkten Infrastruktur wird es schwierig sein, die Abrüstung der Partisanen
zu überwachen, die geheimen Waffenlager der Roten Khmer aufzuspüren und zu
verhindern, daß sie weiterhin Flüchtlingsströme von thailändischen Lagern in das
minen- und malariaverseuchte Landesinnere treiben, wo sie 1993 als „Stimmvieh"
gebraucht werden könnten.
Kaum ein Khmer, der noch ohne Waffe wäre. In den Randsiedlungen von Phnom Penh
randalieren des Nachts betrunkene und bewaffnete ehemalige Soldaten und
Partisanen. Auf dem Land kämpfen „warlords" und Guerrillafrak-tionen um
Territorium und Einfluß. Weil viele Intellektuelle ermordet wurden oder ins
Ausland gingen, wird es Schwierigkeiten machen, ausländische Hilfe richtig
einzusetzen. Parteifunktionäre verkaufen Häuser aus staatlichem Besitz,
Unternehmer aus Thailand schlagen tropische Harthölzer mit beängstigender
Geschwindigkeit, Schmuggel und Korruption blühen.
Von der Administartion ist wenig zu verspüren, sie nimmt
kaum Steuern ein. Hun Sen wird als der „liebste Sohn Margaret Thatchers"
apostrophiert. Während Australier und Franzosen um Einfluß buhlen und immer
wieder für lächerliche diplomatische „Zwischenfälle" sorgen (so bei dem Versuch,
Französisch zur offiziellen Sprache der UN-Vertreter zu machen), machen
Kambodschaner chinesischer Herkunft zusammen mit ihren Familienclans in
Singapur, Hongkong und Thailand lukrative Geschäfte. Sowjetische Diplomaten
sprechen von einem der freiesten Märkte der Welt, westliche Beobachter vom
„großen Ausverkauf. Jeder importierte Mercedes werde die Regierung bei den
Wahlen in zwei Jahren zehntausend Stimmen kosten, sagen sie, den Roten Khmer
aber Sympathien bringen. Diese betreiben „politische Arbeit", indem sie die
Kluft zwischen Stadt und Land ausnützen und den nationalen Haß auf die
Vietnamesen vertiefen. Deshalb wäre es fatal, wenn der Westen seine Hilfe
hinauszögern und auf den Ausgang der Wahlen warten würde.
Kambodscha braucht Geld jetzt, damit acht Millionen Menschen, vor allem in den
Dörfern, ihre Zukunft in Demokratie und Pluralismus, nicht in einer Wiederholung
des blutigen Pol-Pot-Kommunismus sehen. Etwa vierhunderttausend Flüchtlinge
müssen vom nächsten Frühjahr an repatriiert werden. Darauf scheint das
UN-Hochkommissariat für das Flüchtlingswesen (UNHCR) vorbereitet zu sein, aber
die Mittel für die Minenräumung, die vorausgehen müßte, sind noch nicht
eingegangen. Mehrere hunderttausend, möglicherweise mehr als eine Million Minen
werden in den Grenzgebieten Kambodschas vermutet; darunter vor allem die
teuflische T-69 aus chinesischer Produktion, eine grüne Plastikscheibe, die
leicht genug ist, um gerade unter der Wasseroberfläche der Reisfelder zu
schwimmen. Keine Nation hat einen höheren Bevölkerungsanteil an Arm- und
Beinamputierten als Kambodscha. Etwa dreihundert Opfer kommen in jedem Monat
dazu. Viele werden in überfüllten Krankenhäusern nur notdürftig behandelt und
müssen Jahre später noch einmal amputiert werden; immer mehr Schulkinder sieht
man auf Krücken. Oft fällt der Familienernährer aus. Das UNHCR kann nicht
garantieren, daß die Siedlungsgebiete für die repatriierten Flüchtlinge frei von
Minen sein werden, viele werden den Treck ohnehin auf eigene Faust antreten.
Sozialarbeiter in Phnom Penh fragen, warum die westlichen Firmen, die in Kuwait
mit der Entschärfung von Minen Geld verdient haben, nicht längst in Kambodscha
tätig seien.