FAZ 28.8.1996
„Genozid-Programm" gegen das Vergessen
In Kambodscha werden immer mehr Massengräber und Dokumente
entdeckt / Von Erhard Haubold
PHNOM PENH, 27. August. Er sei Außenminister und entsprechend viel auf Reisen
gewesen, er habe mit dem Genozid der Regierung Pol Pots in Kambodscha (1975 bis
1978), der rund zwei Millionen Menschen das Leben kostete, nichts zu tun gehabt.
Das behauptet heute Ieng Sary, der Schwager Pol Pots, und unterscheidet sich
insoweit nicht von den meisten anderen Massenmördern der jüngeren Zeit. Ieng
Sary, seit dem vietnamesischen Einmarsch 1979 im Dschungel an der thailändischen
Grenze, verhandelt mit der Regierung in Phnom Penh über eine Amnestie. Er sei
nicht der „Bruder Nummer zwei" gewesen, betonte er in einem Interview mit der
Zeitung „Bangkok Post" - und mag recht haben damit. Auf der Rangliste des
maoistischen Regimes der Roten Khmer stand er eher auf Platz vier oder sechs,
nach Nuon Chea oder Son Sen. Unglaubwürdig aber ist die Feststellung des
ehemaligen Außenministers, er sei am Entscheidungsprozess der Partei nicht
beteiligt, alleiniger „Architekt" des Genozids sei Pol Pot gewesen, dem der
„Sieg über die Amerikaner" im April 1975 zu „absoluter Macht" verholfen habe. Da
widerspricht ein Zeitzeuge, der frühere Dolmetscher Ieng Sarys namens Ngo Pin,
heute ein höherer Beamter im Planungsministerium Phnom Penhs. Der damalige
Außenminister habe über die Massenhinrichtungen durchaus Bescheid gewußt, etwa
über die Ermordung der nach Hause gelockten Diplomaten und Studenten. Einem
anderen Zeugen hatte er erklärt, daß er auf der Suche nach einem reinen
kambodschanischen Kommunismus sei, „pur, comme un crystal".
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt das „Kambodschanische Genozid-Programm" der
Yale-Universität, das vom amerikanischen Außenministerium mit einer halben
Million Dollar ausgerüstet wurde und seit eineinhalb Jahren Feldforschung
betreibt. Die unter der Leitung des australischen Yale-Professors Ben Kiernan
arbeitenden Forscher haben in Kambodscha nicht nur mehr Massengräber entdeckt,
als sie erwartet hatten, sondern auch eine Fülle von Unterlagen, für deren
Aufarbeitung sie noch einmal zwei Jahre (und mehr Geld) brauchen: an die 500 000
Seiten mit Porträts der Hingerichteten, Verhörprotokollen und auf Befehl immer
wieder umgeschriebenen „Geständnissen"; dazu mehr als zehntausend Fotos von
Opfern. Im Kambodscha Pol Pots sei das Töten eine Massenindustrie gewesen, sagt
einer der am Yale-Projekt mitarbeitenden Politologen. Eine gigantische
Bürokratie habe jede Hinrichtung, jede Folterung, jedes biographische Detail in
Dutzenden von Formularen festgehalten. Mit den Papieren lasse sich ein großer,
internationaler Prozeß gegen die Übeltäter vorbereiten. Pol Pot sei nicht der
alleinige Drahtzieher gewesen. Vielmehr belasteten die Dokumente die gesamte
Führung der Roten Khmer schwer, ihre Mitglieder seien alle informiert gewesen
und hätten einer „Tötungsmaschinerie unter zentraler Kontrolle vorgestanden".
Der Leiter des Gefängnisses Tuol Sleng hat in seinem Tagebuch am 23. Juli 1977
die Hinrichtung von achtzehn Gefangenen einschießlich ihrer Biographien
verzeichnet. „Ebenfalls umgebracht wurden 162 Kinder, so daß die Gesamtzahl der
heute ausgelöschten Feinde 180 beträgt", heißt es in einem Nachtrag. So genau
ging es im bösen Reich Pol Pots zu. Auch bei den übrigen hundert
Exekutionszentren sind genaue Logbücher gefunden worden. Tuol Sleng am Rande
Phnom Penhs war das Hauptquartier der Sicherheitspolizei, hier wurden vorwiegend
„ranghohe" Leute umgebracht, nicht selten Opfer der zahlreichen parteiinternen
„Säuberungen". Die Henker brauchten „eine Menge Muskelkraft", so der Politologe
Craig Etcheson, der das Harvard-Programm in Kambodscha leitet. Getötet wurde
überwiegend mit Eisenhaken, Äxten und Spaten, gelegentlich auch mit
Plastiktüten, eine „regionale Variation", so der Wissenschaftler. Von den
Massengräbern sind bisher mehr als achttausend kartographiert worden.
Insgesamt könnten es rund 20 000 sein, mit jeweils hundert bis zweihundert
Leichen. Die bisherigen Schätzungen von rund zwei Millionen Todesopfern des
Pol-Pot-Regimes können deshalb als realistisch gelten. Bei einem Viertel der
Gräber sollen Exhumierungen stattfinden.
Da entsteht, von Ende dieses Jahres an im Internet, eine gigantische
Datensammlung über das Schreckensregime in Kambodscha, über die Ermordung von
Oppositionellen, von Intellektuellen, von Cham-Muslimen, Buddhisten, Chinesen
und Vietnamesen. Bisher hat die Regierung in Phnom Penh höfliches Interesse an
der Arbeit der Yale-Juristen gezeigt. Ob das so bleibt? Zwar scheint über keinen
Minister oder hohen Beamten (von denen manche zu den Roten Khmer gehörten)
belastendes Material gefunden worden zu sein. Aber in Kambodscha heißt des Thema
jetzt „Aussöhnung". Viele Menschen sind den Kampf gegen die Guerrilla Pol Pots
leid. Nicht wenige Familien, die Opfer unter ihren Angehörigen zu beklagen
haben, verzichten auf eine Verfolgung der Übeltäter. Und König Sihanouk wünscht
zwar Pol Pot die „schlimmste aller Höllen", scheint aber bereit zu sein, Ieng
Sary und andere Rote Khmer, die sich von „Bruder Nummer eins" losgesagt haben,
einen königlichen Pardon zu gewähren, wahrscheinlich im Rahmen einer
Massenamnestie an seinem 74. Geburtstag Ende Oktober. Schon deshalb ist die
Hoffnung der Forscher von Yale, noch einmal zwei Millionen Dollar für drei
weitere Jahre Arbeit zu erhalten (aus der dann viele Dissertationen und
Habilitationen wachsen könnten), möglicherweise vergeblich. Deutschland hat
einen Beitrag abgelehnt, eine Entscheidung der EU-Behörden in Brüssel steht noch
aus. Dies auch deshalb, weil der Leiter des Projekts auch unter Kollegen nicht
unumstritten ist. Der Australier Kiernan war als Student ein Verehrer des
Basis-Kommunismus Pol Pots, dann der von Vietnam in Phnom Penh eingesetzten
Regierung.