Frankfurter Allgemeine Zeitung 16.8.1994
Vorsichtig in Angkor
Wat
Rote-Khmer-Partisanen, Buddha-Statuen ohne Kopf, Kampf dem
organisierten Kunstdiebstahl / Von Erhard Haubold
PHNOM PENH, 15. August. „Von einem Touristen, der auf eine Mine
getreten ist, habe ich noch nichts gehört." Das sagt Rudolf Knuchel, der
Direktor des Grand Hotel D' Angkor in Siem Reap im Nordwesten Kambodschas, wo
man immer noch am besten untergebracht ist, wenn man die größte Tempelanlage der
Welt besichtigen will. Wahrscheinlich hat der aus der Schweiz stammende
Gastronom recht, korrigieren müssen er und andere aber ihre Äußerung vom Mai,
daß Kambodscha für ausländische Besucher „vollkommen sicher" sei. Das ist es
nicht mehr, seitdem Rote-Khmer-Partisanen Züge, Busse und Fähren überfallen,
wild um sich schießen und westliche Touristen als Geiseln nehmen. Wer freilich
etwas vorsichtig ist, unbeleuchtete Straßen der Hauptstadt Phnom Penh nach 21
Uhr ebenso meidet wie die Fahrt auf einem Motorrad, wer nach Angkor mit einer
Gruppe und im Flugzeug reist - der kann Kambodscha noch immer ohne größeres
Risiko besuchen. Ohnehin werden sich von den Warnungen ihrer Botschaften jene
jungen Menschen nicht abhalten lassen, die in der Nähe der Tempel Marihuana zum
wahrscheinlich niedrigsten Preis der Welt kaufen wollen. Abgabe und Verzehr des
Rauschgifts sind in Kambodscha nicht strafbar.
Weil Gefahr nicht nur von den Roten Khmer, sondern auch von Polizisten und
Regierungssoldaten droht, die vielleicht seit Monaten keinen Sold mehr erhalten
haben, muß der vorsichtige Besucher auf eines der schönsten Erlebnisse vorerst
verzichten: die Fahrt um 5 Uhr zu den Tempeln, die sich über mehrere
Quadratkilometer erstrecken und wo um diese Zeit noch keine Touristenseele zu
erblicken ist. Wo es kühl ist vor Anbruch des neuen tropischen Tags, wo man
Vogelstimmen studieren und vielleicht ein altes Männchen namens Huy My treffen
kann, das einen in den verwilderten Tempel-Ruinen von Ta Phrom auf die Gefahr
der Hanuman-Schlange aufmerksam macht und mit dem Stock gegen das moosbelegte
Gemäuer schlägt. So könnte es schon der Franzose Henri Mouhot 1860 erlebt haben,
dem die Wiederentdeckung der im 12. Jahrhundert gebauten Tempel zu verdanken
ist. Daß die Roten Krimer abermals das Land und die 300 Kilometer von Phnom Penh
entfernte Tempelstadt verunsichern, trifft die Wirtschaft Kambodschas hart, denn
der Tourismus soll einer der wichtigen Devisenverdiener werden. Zur
Jahrtausendwende sollen eine Million Besucher im Jahr kommen.
Im „Grand Hotel", das 1928, auf dem Höhepunkt französischer Kolonialmacht
eröffnet wurde, haben neben anderen Charles de Gaulle, Haile Selassie, Charlie
Chaplin und Jacqueline Kennedy gewohnt, ganz in der Nähe hat König Siha-nouk in
jedem Jahr für drei bis vier Monate sein Winterquartier bezogen, bei angenehmen
Temperaturen von 20 bis 25 Grad hat er dort Staatsbesucher und Diplomaten
empfangen. Das waren, in den fünfziger und sechziger Jahren, „die besten Zeiten
für Kambodscha", erzählt Knuchel, allein in der Nähe der Tempel gab es damals
400 Hotelzimmer der Oberklasse - die meisten wurden nach dem Einmarsch der Roten
Khmer 1975 niedergebrannt. Im vergangenen Jahr, bei einem Angriff der Partisanen
auf die Stadt, hat Knuchel drei Stunden unter einer Betontreppe in seinem Hotel
Schutz suchen und die meisten Zimmerbuchungen streichen müssen. Aber der
Hotelier gibt die Hoffnung nicht auf. Angkor sei ein Magnet, ein
Vierteljahrhundert nicht zugänglich gewesen. Deshalb bestehe großer
Nachholbedarf für den „anspruchsvollen" Tourismus, für „religiöse Reisen" aus
Thailand (Buddhisten) und Indien (Hindus).
Angkor Wat war schon 1972 von den Roten Khmer besetzt worden. Die maoistischen
Partisanen haben einige der wertvollen Skulpturen als Schießscheiben mißbraucht,
sie haben außerdem einige Tempel zerstört, um Steine für den Bau von Straßen und
Häusern zu gewinnen, sie „zerhackten Buddha-Statuen mit ihren Äxten". Das
erzählt der ehemalige Kurator Pich Keo, der mit dem bekannten französischen
Fachmann Bernard Groslier zusammenarbeitete und heute das Nationalmuseum in
Phnom Penh leitet. Weil er klein und behende ist, weil er Brille und Ehering
rechtzeitig wegwarf, überlebte der Bauernsohn („ich kann auf jeden Baum
klettern") die Zeit des Genozids und der Säuberungen, mit „Blättern und ein
wenig Reissuppe" auf dem täglichen Speisezettel. Bis 1970 seien alle Tempel
sauber gewesen, berichtet Pich Keo, dann aber, während der amerikanischen
Bombardierungen und der Herrschaft der Roten Khmer bis Ende 1978 stark
vernachlässigt worden.
Als erste waren dann indische Archäologen zur Stelle, die ihre Erfahrungen mit
anderen Bauwerken der Hindu-Kultur nutzten und große Teile von Angkor Wat
reinigten und restaurierten. Dafür werden sie heute von französischen Fachleuten
kritisiert ( „zu scharfe Chemikalien für die weiche Sandsteinfassade, zuviel
Zement bei den Reparaturen"), denen sie entgegenhalten, daß bei den „Tiraden"
auch gewisse „Alleinvertretungsansprüche" der ehemaligen Kolonialmacht eine
Rolle spielten.
Zwar ist Angkor als Hauptstadt aufgegeben worden, als Kambodscha im fünfzehnten
Jahrhundert zum Buddhismus konvertierte. Aber die Tempel bleiben das nationale
Symbol, das sich auf der Flagge einer jeden Regierung findet. „Keine Armee kann
Angkor zerstören", so Pich Keo, deshalb sei der Tempel „ein guter Platz für
Flüchtlinge", die sich vor den Roten Khmer in Sicherheit bringen wollten.
Deshalb ist Angkor heute an vielen Stellen bewohnt, von Menschen mit
Schlafmatten und Kochtöpfen, unter ihnen viele mit einem Bein, einem Arm -Opfer
der zahlreichen und noch immer nicht entschärften Minen. Auch immer mehr Mönche
lassen sich in den Tempeln nieder - ein Zeichen dafür, daß der Buddhismus
überall in Kambodscha Auftrieb hat. Vor allem die jungen Mönche sprechen ein
wenig Englisch, beinahe jeder kennt zwei Zauberwörter: „One Dollar". Draußen,
vor dem großen Wassertank, wird dem Touristen angeboten, was die Händler innen
gestohlen haben: Steinfiguren, Friese, Köpfe. Aber es sind nicht diese
verbotenen Geschäfte, die den Behörden Sorge machen, es sind nicht einmal die
Missetaten der Roten Khmer, „die vielen Skulpturen die Köpfe abgeschlagen
haben", wie Pich Keo berichtet. Es ist vielmehr der organisierte Schmuggel,
unter Beteiligung von Regierungssoldaten, Beamten und Polizisten, der wertvolle
Kunstgegenstände über die Grenze nach Thailand und von dort auf den
internationalen Kunstmarkt bringt. „Unsere Leute sind arm", so Kurator Keo, „sie
verkaufen eine Kopf Skulptur für 1000 Dollar, für die dann in New York 45 000
Dollar erzielt werden."
König Norodom Sihanouk hat es als eine Ironie bezeichnet, daß das Erbe von
Angkor heute gefährdet sei, nachdem es „Jahrhunderte mit Kriegen, Invasionen und
Kapitulationen" überlebt habe. Der Diebstahl von Kunstgegenständen habe ein
„katastrophales Ausmaß" erreicht. Verantwortlich seien „Räuber, Polizisten,
Soldaten, Beamte, unehrliche Patrioten, angeblich ehrenwerte Käufer, falsche
Touristen". Nach Auskunft von UN-Beobachtern ist im vergangenen Jahr
durchschnittlich an jedem Tag ein wertvolles Stück verschwunden. Die Diebe
wissen genau, was sie nehmen müssen, sie stehlen nach Katalog, kommen oft
vorher, wobei sie fotografieren und Lageskizzen machen. Neulich wurde ein
gepanzerter Truppentransporter auf dem Weg zur thailändischen Grenze angehalten;
an Bord waren fünfzehn wertvolle Statuen aus dem 13. Jahrhundert. Selbst im Büro
das Konservators von Angkor Wat, wo 7000 besonders wertvolle Statuen von
Hindu-Göttern sowie reichverzierte Steinfriese gelagert werden, haben bewaffnete
Banden zweimal eingebrochen und einen Wachmann erschossen. Alle sieben
Tempelstädte zu sichern, Hunderte von Quadratkilometern, wird nicht möglich
sein, scheitert schon am Geldmangel. Aber ein Anfang soll jetzt gemacht werden,
mit der Schulung besonderer Polizei-Einheiten und der Katalogisierung von bis zu
10 000 wertvollen Kunstgegenständen, die zum Teil in Angkor Wat, zum Teil im
Nationalmuseum von Phnom Penh untergebracht sind. Damit wird man zwar den
Vandalismus nicht verhindern, wohl aber in der Lage sein, einen Diebstahl mit
Dokumenten nachzuweisen, wenn aus Angkor gestohlene Meisterwerke später in
westlichen Museen oder in Thailand auftauchen. „Das konnten wir bisher nicht",
sagt Pich Keo, der um internationale Hilfe bittet, weil „das Erbe von Angkor uns
allen gehört." Die Bereitschaft Thailands, dreizehn überaus wertvolle Skulpturen
zurückzugeben - sie wurden 1990 bei einem Antiquitätenhändler beschlagnahmt -
könnte der erste Erfolg sein.