Frankfurter Allgemeine Zeitung 18.6.1994


Erhard Haubold
Tränen im Auge des Buddhas
Kambodscha — ein zerrissenes Land und ein verzweifelter König
 

In Battambang, der einstmaligen Kornkammer im Westen Kambodschas, liegen die Tuberkulose-Kranken unter Bäumen, sterbend. Sie haben nicht einmal das Geld für einen Ochsenkarren, der sie ins Krankenhaus bringen könnte. Von den Ärzten dort mag mancher seinen Doktor-Titel gekauft haben, für tausend Dollar oder mehr, Preistendenz steigend. „Du schreibst dich ein an der Universität, gehst nie wieder hin, deine Familie hat aber Einfluß, Verbindungen etwa mit der alten Stalinisten-Partei - und irgendwann bist du promoviert", sagt Lim Sour, Präsident der „Studentenvereinigung der Khmer". Unter seinen mehr als zweitausend Kommilitonen findet er immer mehr, die wütend sind über wuchernde Korruption und verbreitete Rechtlosigkeit, die deshalb eine Rückkehr der Roten Khmer an die Macht nicht mehr ausschließen, vielleicht sogar begrüßen würden. Das Gedächtnis ist kurz in Kambodscha, Geschichtsbücher gibt es keine. Vor einem Jahr sind die Studenten begeistert zu den ersten demokratischen Wahlen gegangen, jetzt äußern sie sich zornig über die Politiker, die „dem Wahlergebnis nicht gehorchen", den Machtwechsel verhindern und ihr wichtigstes Versprechen, den Frieden, nicht halten können.


Wahlverlierer weiter an der Macht


Auf den Landstraßen, aber auch in der Hauptstadt sind Überfall, Raub und Mord alltägliche Ereignisse geworden. Motorradfahrer werden einfach von ihren Maschinen geschossen. Daneben haben es die Gangster auf Jeeps abgesehen, die mit Gewinn nach Vietnam verschoben werden können. Nicht nur einmal entpuppten sich die Räuber als Leibwächter hoher Politiker und gingen natürlich straffrei aus. Mindestens vier westliche Besucher sind entführt worden, und die Warnungen ihrer Botschaften lassen manchen Touristen die lange geplante Reise nach Angkor Wat noch einmal verschieben. Kambodscha verliert Devisen; die ausländischen Investoren gehen einstweilen lieber ins benachbarte Vietnam. Beliebter Zeitvertreib bei Soldaten und Polizisten, die mit einem Gehalt von zehn bis zwanzig Dollar im Monat unterbezahlt sind, ist das Eintreiben von „Schutzgeldern" auf Brücken und Straßen. Zur Warnung schießen sie ihren Opfern knapp vor die Füße.
Von 22000 „Blauhelmen" und UN-Beamten sind, ein Jahr nach den Wahlen, drei übriggeblieben, und die dürfen aus Sicherheitsgründen nicht mehr aufs Land. Auch viele nichtstaatliche Hilfsorganisationen haben sich aus den Provinzen zurückgezogen. Die mehr als zwei Milliarden Dollar, die von der internationalen Gemeinschaft für den „Friedensprozeß" ausgegeben worden sind, stellten eine „Verschwendung" dar, so König Sihanouk. „Sprunghaft gestiegene Preise, sonst ist nichts geschaffen worden", heißt es auf den Dörfern, wo neunzig Prozent der Bevölkerung von neun Millionen Menschen leben. Sie erfahren, wie buddhistische Mönche berichten, eine neue Form der Gewalt: Krankenhäuser ohne Arzneimittel, Schulen ohne Bücher, Dörfer ohne Wasser - Folgen der Systemreform, des „Wettrennens in Richtung Weltkapitalismus", bei dem, wie in anderen postleninistischen Gesellschaften, kein Politiker für die Armen, für die Bauern, das Wort ergreife, so der amerikanische Doktorand Stephen Heder. Für die Versorgung von 200000 Waisen und 140000 Hinterbliebenen von gefallenen Soldaten stehe nicht genügend Geld zur Verfügung, hat der zuständige Minister zugegeben. Nach einem Vierteljahrhundert Krieg und Bürgerkrieg machen Frauen mehr als sechzig Prozent der Bevölkerung aus, dreißig Prozent von ihnen müssen ihre Familien allein versorgen. Menschen mit einem Bein, einem Arm, so malt ein Studentenführer die „Kambodschaner der Zukunft".
„Die Buddha-Statue im Tempel hat Tränen in den Augen. Buddha lächelt nicht mehr." Das erzählen viele Menschen, das wurde auch im April 1975, vor dem Einmarsch der Roten Khmer, gläubig weitergereicht. Daß die Geschichte sich wiederholen könnte, daß die Maoisten nur auf den Zusammenbruch der demokratischen Fassade warten, schließen manche nicht mehr aus. Sie ziehen Parallelen zu 1975: die Raffgier der Politiker; die armen, in die Stadt wandernden Bauern; eine unfähige, disziplinlose Armee, deren Soldaten nicht bezahlt werden, zuwenig zu essen haben, an Malaria leiden - und ihre Waffen an die Guerilla Pol Pots verkaufen.

„Eigentlich ist alles noch schlimmer als 1975", sagt Julio Jeldres, Chilene mit australischem Paß, langjähriger Berater und Biograph Sihanouks. Damals hätten sie wenigstens das Vermögen des Staats, Häuser, Grundstücke, Lizenzen, nicht verkauft. „Die Korruption zerstört alle und alles", so Jeldres. Die Elite sei nur am Geldmachen interessiert. „Für mich gibt es keine Überraschungen mehr, ich erwarte das Schlimmste." Heute wie damals sei Phnom Penh das Zentrum des Lasters, alle Sünden von gestern würden wiederholt. „Und wenn die Kambodschaner abermals von den Steinzeitkommunisten Pol Pots befreit werden müssen, werden sie den Vietnamesen vielleicht dankbar sein, werden sie es hinnehmen, wenn Thailand die andere Hälfte (im Nordwesten) an sich reißt." Exilkambodschaner, die mit Sihanouk zurückgekehrt waren, denken dankbar an ihren ausländischen Paß; ihre Kinder sprechen ohnehin lieber Französisch als Khmer. Andere klagen, daß es den Fluchtweg in die thailändischen Lager nicht mehr gebe. Unsicherheit und Unzufriedenheit sind weit verbreitet. Nach dem Abzug der „Blauhelme" ist Lethargie eingezogen, fehlen Bewegung, Hoffnung, Ziele.
Nicht, daß mit den UN-Milliarden nichts erreicht worden wäre. Kambodscha hat heute relativ freie Zeitungen, die offen über Korruption und andere „Schwächen" der Regierung berichten: 27 in Khmer, drei in Englisch, zwei in Französisch. Gruppen freiwilliger Sozialarbeiter und ein halbes Dutzend Menschenrechtsorganisationen wären noch vor zwei Jahren undenkbar gewesen. „Wir werden weniger überwacht", sagt Studentenführer Lim Sour. Der Buddhismus blüht, überall werden Pagoden repariert oder neu gebaut, oft mit ausländischer Hilfe, die die Hälfte des Staatshaushalts ausmacht. Der Finanzminister Sam Rainsy hat die Inflation unter Kontrolle gebracht, ein ausgeglichenes Budget vorgelegt, die Steuerbasis erweitert und „attraktive" Vorschritten für Auslandsinvestitionen ausgearbeitet. 350000 Khmer, vier Prozent der Bevölkerung, sind von den Flüchtlingslagern in Thailand repatriiert, wenngleich nicht dauerhaft angesiedelt worden (dazu hätte die Entschärfung der Minen viel früher einsetzen müssen). Neben dem Finanzminister gibt es noch zwei, drei charismatische Figuren in der Regierung, etwa Außenminister Norodom Sirivudh (ein Halbbruder des Königs) und You Hockry vom Innenministerium - junge und gebildete Leute mit Erfahrungen im Westen, ein meilenweiter Unterschied zu den grauen Figuren der Stalinisten-Partei, die sich heute Kambodschanische Volkspartei (CPP) nennt und bis zu den Wahlen im letzten Jahr zu bestimmen hatte.
Den Menschen war, vor allem von der Royalistenpartei Funcinpec, viel mehr versprochen worden, mehr Demokratie, mehr wirtschaftlicher Fortschritt, weniger Krieg, weniger Gewalt. Mehr als neunzig Prozent der Wahlberechtigten sind im Mai 1993 zu den Urnen gegangen, den Todesdrohungen der Roten Khmer trotzend. „Wir stimmten für Frieden und totale Veränderung", sagt der Studentenführer. Aber jetzt sind alle enttäuscht, weil die Regierung wie gelähmt ist. Die Leute Pol Pots hatten die Wahlen boykottiert. Von den beiden anderen großen Parteien gewannen die Funcinpec-Royalisten, die überall mit dem Foto des Gottkönigs Sihanouk werben konnten, 58 Sitze in der aus 120 Mitgliedern bestehenden verfassunggebenden Versammlung. 51 Sitze entfielen auf die Stalinisten, die offenbar lange vorher beschlossen hatten, daß sie die seit dem vietnamesischen Einmarsch 1979 genossene Macht auf keinen Fall aufgeben wollten. Gleich nach den Wahlen erklärten sechs Provinzen, alle an der Grenze mit Vietnam gelegen, die Sezession - eine Kampagne, mit der die Stalinisten den Wahlsieger unter Druck setzten. Sie drohten mit einer Meuterei von Armee und Polizei, mit allgemeinem Chaos in der von ihnen ebenfalls kontrollierten Verwaltung - ganz ähnlich wie die Sandinisten nach den Wahlen in Nicaragua Anfang 1990.
Sihanouk und die Vereinten Nationen gaben nach, erlaubten den Wahlverlierern den Verbleib an der Macht, den Willen der Wähler mißachtend. Erster Ministerpräsident der neuen Koalitionsregierung wurde Prinz Norodom Ranariddh (Funcinpec), ein Sohn des Königs. Zweiter Ministerpräsident wurde Hun Sen von der Stalinisten-Partei CPP, der das Amt vorher alleine innehatte. Genauso wurden alle anderen Ministerien, wurden die Gouverneursposten in den einundzwanzig Provinzen aufgeteilt: ein sicheres Rezept für die totale Paralyse, für die Verhinderung des Machtwechsels. Denn selbst dort, wo der Funcinpec-Mann die erste Position hat, ist sein Stellvertreter von der CPP, lange gedient und den „Apparat" beherrschend. In einer Provinz geht der Funcinpec-Gouverneur mit der Maschinenpistole zum Dienst, in einer anderen kann er seine Residenz nicht betreten - der kommunistische Vorgänger hat sie noch rasch an seine Frau überschrieben. Jeder Reformversuch des Finanzministers Sam Rainsy stößt auf die eingefleischten Interessen der Stalinisten, die seinen Kampf gegen die Korruption mit Todesdrohungen beantworten. In Kambodscha herrschten bisher Gewehr und Geld, sagt Rainsy, jetzt komme es darauf an, die „Macht des Rechts" einzuführen. Ein frommer Wunsch: Nicht einmal Funcinpec-Chef Ranariddh steht ganz hinter seinem Finanzminister. In der Nationalversammlung wird seit Monaten nur darüber gestritten, ob zwei CPP-Abgeordnete, die Anführer der Sezession im letzten Jahr, wieder aufgenommen werden sollten. Das einzige bisher verabschiedete Gesetz besagt, daß die Diäten und Aufwandsentschädigungen der Abgeordneten auf 1100 Dollar im Monat erhöht werden sollen - ein obszöner Betrag in einem Land, in dem selbst hohe Beamte und Ärzte gerade vierzig Dollar im Monat verdienen.
 

Gefährliche Stalinisten, schwache Royalisten
 

Schlüsselministerien wie Innen (mit der berüchtigten Geheimpolizei), Verteidigung und Justiz sind ebenso in der Hand der Stalinisten wie die Armee und die Verwaltung. Die CPP hat eine über Jahre gewachsene Parteiorganisation, mit Funktionären noch im letzten Dorf. Die Royalistenpartei dagegen ist erst seit zwei Jahren im Land, hat keine Ideologie, keine Organisation und besteht überwiegend aus Exilpolitikern, die einen zweiten Paß haben. Der gelernte Jura-Professor (Aix-en-Provence) Ranariddh ist ein intelligenter Diplomat. Aber als Führer der von seinem Vater gegründeten Partei hat er schon im thailändischen Exil wenig geboten. Die kommunistischen Konkurrenten nutzen diese Schwächen und könnten es durchaus darauf anlegen, mit einer Politik des totalen Chaos, das dann den Royalisten zur Last gelegt werden könnte, die nächsten Wahlen zu gewinnen. Davon ist nicht nur Sihanouk-Berater Julio Jeldres überzeugt, der die „Situation" als „sehr schlecht, kurz vor dem Zusammenbruch" beschreibt und auf den Mafia-Charakter der kommunistischen „Volkspartei" hinweist, auf die „Welle systematischer Gewalt und Einschüchterung", mit der die CPP im letzten Jahr in den Wahlkampf zog. An die hundert Funcinpec-Mitglieder wurden ermordet. Die Menschenrechtsorganisation „Asia Watch" hat beschrieben, wie der Gouverneur der Provinz Battam-bang, ein Neffe der grauen CPP-Eminenz Chea Sim (heute Präsident der Nationalversammlung), geheime Poli-zeieinheiten aufstellte, die dann politische Gegner ausspionierten und umbrachten.
Daß die Vereinten Nationen dagegen nicht einschritten, hat viele ebenso erzürnt wie die Sympathie, mit der Länder wie Frankreich oder Japan auf die undemokratischen Forderungen der Kommunisten nach den Wahlen reagierten. „Frankreich war daran interessiert, etwas von seinem Einfluß aus der Kolonialzeit zurückzugewinnen", sagt Jeldres, „Japan hatte sein Auge auf lukrative Wiederaufbaukontrakte geworfen." Aufgefallen ist auch, daß Amerika dem als Verletzer der Menschenrechte verdächtigten ehemaligen kommunistischen Innenminiser Sin Song, einem der „Sezessionisten", ein Einreisevisum erteilt hat, ebenso wie dem Kommunisten Sar Kheng, der immer noch dem Sicherheitsapparat vorsteht. Ob Washington die Hoffnung habe, solche Betonköpfe zur Demokratie bekehren zu können, fragt der Sihanouk-Biograph und antwortet, daß „Amerika eben Indochina niemals verstanden hat".


Auch wenn man sich diesem Urteil nicht anzuschließen vermag, ist Kambodscha ein Lehrstück nicht nur für eine fehlgeschlagene UN-Operation, die aufwendigste in der Geschichte der Weltorganisation, sondern auch für eine oft falsche, oft zynische, weil von falschen Voraussetzungen ausgehende westliche Politik. Ein Jahr nach den Wahlen sind die Retter in der Not eine altertümliche Monarchie unter Norodom Sihanouk (der nicht mehr lange zu leben hat) und möglicherweise die buddhistischen „Entwicklungsmönche", die Sihanouk immer häufiger um politische Hilfe ersucht - nicht aber die demokratischen Institutionen, welche die internationale Gemeinschaft einem Land überzustülpen versucht hat, das pluralistische Traditionen wie Machtteilung und politischen Kompromiß nicht kennt, wo alle politischen Parteien bereit sind zur Anwendung von Gewalt. Mit der westlichen Waffenhilfe, die Sihanouk angefordert hat, sollen jene Roten Khmer endlich niedergezwungen werden, die es schon lange nicht mehr gäbe, wenn ihnen von Ende 1978 an mit westlicher und chinesischer Hilfe nicht neues Leben eingehaucht worden wäre. Vertrieben von den einrückenden Vietnamesen, stolperten damals Pol Pot, Nuon Chea, Ieng Sary und die anderen Drahtzieher des drei Jahre währenden Genozids in Kambodscha, der eine Million Menschen das Leben gekostet haben dürfte, nach Thailand. Man hätte sie dort verhungern lassen oder vor ein Tribunal stellen können.
Aber die Massenmörder wurden noch gebraucht. Sie allein waren in der Lage, den Guerillakampf gegen die vietnamesischen Besatzer zu führen, die Kambodscha immerhin von der Herrschaft der Maoisten Pol Pots „befreit" hatten. Geld kam aus Amerika, das die Indochina-Schlappe von 1975 nicht verwunden hatte. Interessiert waren die Nachbarn in der Asean-Gemeinschaft, die ein aggressiv ausgreifendes Vietnam fürchteten. Die Waffen kamen aus China, das dem „kleinen Drachen" in Hanoi Anfang 1979 ohnehin eine (allerdings erfolglose) „Lektion" erteilt hatte. Die thailändischen Militärs transportierten die Gewehre an die Grenze und zweigten für den eigenen Bedarf ab, verdienten außerdem an der westlichen Hilfe für die kambodschanischen Flüchtlinge, in deren Lagern auch Partisanen ausgebildet wurden. Beinahe zehn Jahre ging der Kampf, bis zum politischen Erdbeben von 1989, das Ausläufer auch in Südostasien hatte. Der „große Freund", die Sowjetunion, war verschwunden, also zog Vietnam seine letzten Soldaten aus Kambodscha ab. China hielt die Zeit für gekommen, sich von den Teufeln Pol Pots zu lösen, um sein internationales Ansehen nach dem Tiananmen-Massaker zu verbessern.


Immer noch die Roten Khmer


So kam es zur Pariser Konferenz vom Oktober 1991, wurden Parteien von ihren Gönnern (China, Amerika, Asean-Länder) an einen Tisch gesetzt, die nicht zusammenkommen konnten, weil sie gar nicht zusammenkommen wollten: Die Roten Khmer haben weder ihre Führung noch ihre Ideologie geändert, nach wie vor wollen sie die Macht in Phnom Penh zurückerobern und „unser Land in die Steinzeit zurückwerfen, ich kenne sie", so König Sihanouk in einem Film des australischen Produzenten Jim Gerrand. Die Stalinisten um Hun Sen andererseits sind allesamt ehemalige Rote Khmer, konnten einer der vielen Säuberungen durch die Flucht über die Grenze im Osten entkommen - und sind dann auf vietnamesischen Panzern zurückgekehrt. Sie haben Angst vor ihren ehemaligen Genossen, sie verteidigen den in mehr als zehn Jahren erworbenen Wohlstand ihrer Frauen (Grundstücke, Gold, Automobile) mit Klauen und Zähnen. Schließlich die bürgerlichen Kräfte in der Royalisten-Partei Funcinpec, die schon in der Widerstandskoalition das aller Welt präsentierte „Feigenblatt" waren und im Wahlkampf Versprechungen gemacht haben, die sie jetzt nicht halten können. Die reale Macht haben die Verlierer der Wahlen, die Stalinisten. Sie kontrollieren auch die Gewehre, schaffen es aber mit 160000 Soldaten nicht, die auf 8000 bis 10000 Mann geschätzte Guerilla Pol Pots zu besiegen.
Westliche Beobachter wie der Franzose Serge Thion, denen sich wohl auch die Kommunisten Hun Sens anschließen würden, reden weiter einer militärischen Lösung das Wort. Mit einer demoralisierten, von korrupten Offizieren geführten Armee? Mit Waffenlieferungen würde der Westen den Krieg eskalieren lassen, ein repressives Regime stärken und die Position des Königs unterminieren. Ministerpräsident Ranariddh sagt, die beste Waffe sei nicht das AK-47-Gewehr, sondern wirtschaftlicher Fortschritt. Wie aber, wenn die Roten Khmer zwar Städte nicht einnehmen können, aber Entwicklungshelfer und ausländische Investoren, auch mit der Gefahr von Entführungen, abschrecken? Die Regierung erwägt, die Leute Pol Pots vom Parlament zu gesetzlosen Desperados erklären zu lassen. Dann könnte Thailand, ein Mitunterzeichner der Pariser Friedensverträge, gezwungen werden, die Grenze dichtzumachen und seine Generäle zur Ordnung zu rufen, die mit den Partisanen nicht nur Waffengeschäfte machen, sondern auch am lukrativen Holz- und Edelsteinhandel partizipieren. Getrogen hat die Hoffnung, die Roten Khmer, die den Wahlenthusiasmus der Kambodschaner im letzten Jahr falsch eingeschätzt hatten, könnten immer mehr ihrer Anhänger durch Desertion verlieren. Sie scheinen die Krise bestanden zu haben, ihr revolutionärer Optimismus ist ungebrochen. Sie warten auf den Zusammenbruch des demokratischen Systems. „Wir werden siegen", sagen sie, sagt jedenfalls die Führung, deren Mitglieder alle sechzig Jahre und älter sind. Was die jüngeren „Kader" denken, weiß niemand. Das weiß auch Sihanouk nicht, der nach den Wahlen versuchte, ein „Kabinett der Aussöhnung" zu bilden, unter Einschluß der Roten Khmer, damit aber am Einspruch Amerikas scheiterte, das mit der Verweigerung jedweder Entwicklungshilfe drohte.
Der Monarch ist mit vielen anderen Kambodschanern überzeugt davon, daß der Bürgerkrieg nur beendet werden kann, wenn die Partisanen einen Stuhl in Phnom Penh haben, ein Mitspracherecht, eine beratende Rolle, wie sie selbst sagen. Funcinpec habe diesbezügliche Versprechungen nicht gehalten, behaupten sie. Sihanouk weiß aber auch, daß die Maoisten nichts anderes im Sinne haben, als „die Regierung von innen aufzubrechen", sie wollen an die Macht, „und wenn es zehn Jahre dauert". Er setzt auf den Kompromiß, auf Zeitgewinn, auf ein langes Ringen. Bestrebungen, die politische Macht des konstitutionellen Monarchen zu erweitern, werden von Funcinpec-Politikern und Studenten unterstützt, von der Koalitionsregierung aber mit Mißtrauen verfolgt. Eine Mitte Mai geplante Demonstration, bei der 20000 Zeitungen und Broschüren verteilt werden sollten, wurde vom Innenministerium verboten. Sihanouk warnt vor der Gefahr einer Teilung Kambodschas, wo die Roten Khmer inzwischen nicht nur Gebiete entlang der thailändischen Grenze kontrollierten (rund zehn Prozent des Gesamtterritoriums), sondern auch Sanktuarien in der Nähe der Hauptstadt, entlang der Straße Nummer vier, in Kampot, Pursat und Sihanoukville. „In zehn Jahren", so sagt er, „könnten wir von der Landkarte verschwunden oder auf die Größe Monacos geschrumpft sein." Zuviel hängt in Kambodscha an einem alten, krebskranken König, der oft über die „zwei Gesichter" seines Volkes rätselt - voller Lächeln und Liebe das eine, eine Fratze voller Krieg und Gewalt das andere.