Frankfurter Allgemeine Zeitung 5.5.1994


Touristen gegen das Vergessen

In Kambodscha hat die Normalität begonnen / Von Andreas Novak


Früher war Phnom Penh als eine der schönsten Städte Asiens bekannt. Das ist bis heute an einzelnen Straßenzügen zu sehen. Gepflegt geht es im Umkreis des beeindruckenden Königspalastes zu, die Grünanlagen und Blumenrabatten erstrahlen in saftigen Farben. Die goldene Pagode im Innern des Königspalastes ist ein Juwel kambodschanischer Baukunst. Ein paar Straßen weiter jedoch läuft man an stinkenden Abfallbergen vorbei. Die auf vielen Straßen im Stadtzentrum fehlende Asphaltdecke wird ersetzt durch den täglich anfallenden Müll; in der Straße der Schneider haben fast katzengroße tote Ratten ihre letzte Ruhestätte in Stoffresten gefunden. Man lernt schnell, darauf zu achten, wo man in der Hauptstadt Kambodschas hintritt.
In einem der zahlreichen guesthouses sitzt der Sohn des Hauses in der Einfahrt und lernt für seine Prüfung: Die Schiefertafel an der Wand zeigt komplizierte chemische Verbindungen. Sein Blick kreist zwischen Lehrbuch, Wandtafel und Straße hin und her - als ich mit meinem Gepäck vorbeikomme, springt er auf und weist freundlich auf die noch leeren Gästezimmer im zweiten und dritten Stock des Hauses hin. Seine Familie wohnt auf den Hausfluren hinter Decken und Tüchern, die den Blick auf die Betten verhüllen; alle Zimmer mit festen Wänden werden für wenige Dollar an Touristen vermietet. Abends hütet er den Eingang und lernt weiter bei dem Gedröhn der allgegenwärtigen Dieselgeneratoren made in Japan - die Stromversorgung in der Hauptstadt bricht in der Trockenzeit häufig zusammen und ist dann der Eigeninitiative der Bewohner überlassen.
Im ersten Stock des guesthouse sind chemische Verbindungen anderer Art das Hauptthema: An einer Sitzecke auf dem Balkon werden die letzten Joints vor der Nachtruhe gedreht, die neuesten Informationen über Preise und Qualität ausgetauscht. Europäer, Amerikaner, Neuseeländer und Australier haben in Phnom Penh ihr Drogeneldorado erkannt: Beste Qualität aus dem Goldenen Dreieck findet ohne Verzögerung den Weg zu ihnen, die Lebenshaltungskosten im Land sind viel geringer als irgendwo sonst, man ist als Tourist mehr als gerne gesehen, und die Regierung hat andere Sorgen als Drogen.
Von alledem kann man allmorgendlich in zwei englischsprachigen Tageszeitungen, hergestellt in Phnom Penh, lesen: Regierungstruppen leisten sich in den grenznahen Regionen zu Thailand erbitterte Kämpfe mit den Roten Khmer. Die regierungsnahe Cambodia Times berichtet mit vielen farbigen Bildern von der Einnahme des Provinzstädtchens Anlong Veng im Norden Kambodschas. Das Hauptquartier des verhaßten Khmer-Rouge-Generals Ta Mok sei eingenommen worden. Auf der überhasteten Flucht habe er sein Holzbein zurücklassen müssen. Vierfarbig wird die Trophäe abgebildet - kurz vor ihrem Abflug ins Militärmuseum, wo sie ausgestellt werden soll. Die weniger regierungsnahe und mit ihren zehn zusammengehefteten DIN-A4-Blättern weniger professionell wirkende Cambodia Daily sieht die Sache etwas kritischer. Und tatsächlich stellt sich wenige Tage später heraus, daß der Sieg etwas überstürzt gemeldet wurde: Die Regierungstruppen wurden von den gut ausgerüsteten Roten Khmer eingeschlossen und konnten sich nur mit großen Verlusten aus ihrem Kessel befreien. Die Cambodia Daily ist mit Agenturmeldungen ausgestattet, die ihr im Rahmen eines Projektes zur Förderung des freien Journalismus kostenlos von drei amerikanischen und einer japanischen Nachrichtenagentur zur Verfügung gestellt werden, sie steht unter der Leitung von erfahrenen ausländischen Journalisten. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, ihre kambodschanischen Kollegen auszubilden, bis sich die Zeitung selbst trägt und etabliert hat. Über die Ereignisse in Kambodscha und im Rest der Welt fühlt man sich als Leser gut informiert.
Eine beeindruckende Initiative für ein Land, in dem die Pressefreiheit mehr als zwanzig Jahre nicht einmal auf dem Papier stand: Das Regime des Generals Lon Nol, mit Unterstützung der Amerikaner 1970 per Staatsstreich an die Macht gekommen, kämpfte mit allen Mitteln ums Überleben. Die Lebensbedingungen verschlechterten sich rapide, und Phnom Penhs Bevölkerungszahl stieg von 600000 auf über zwei Millionen. Es waren Kriegsflüchtlinge aus dem Osten Kambodschas, deren Heimatdörfer unter den Bombenteppichen der amerikanischen B 52 verwüstet wurden: Der Codename war Operation „Menü" und bestand aus den Mahlzeiten breakfast, dinner und supper. Damit servierte man den Kambodschanern auf den Reisfeldern die eineinhalbfache Bombentonnage, die im Zweiten Weltkrieg auf Japan fiel. Dann kam der Sieg der gegen Lon Nol kämpfenden Roten Khmer, die am 17. April 1975 Phnom Penh einnahmen. Innerhalb von drei Tagen räumten sie die gesamte Stadt und gingen als eine der brutalsten Regime in die Weltgeschichte ein. Schätzungen sprechen von etwa einer Million Toten unter ihrer Herrschaft von 1975 bis 1978. Bis auf die Angehörigen weniger ausländischer Botschaften, der kommunistischen Parteizentrale und des Verhör- und Folterzentrums Tuol Sleng war Phnom Penh ausgestorben. Die Ratten übernahmen die Herrschaft über die Stadt. Als dann die Vietnamesen Ende 1978 einrückten, kehrte zwar die Bevölkerung zurück, der Frieden jedoch noch lange nicht.
Vor dem geringen Widerstand, der ihnen entgegengebracht wurde, selbst überrascht, marschierten die Vietnamesen gleich bis an die thailändische Grenze durch. Die Khmer-Kämpfer hatten sich in die unwirtlichen Grenzregionen, in den Dschungel zurückgezogen. In den folgenden Jahren wurden sie mit Waffen ausgestattet, hauptsächlich von den Chinesen, manche sagen auch von Nordamerika über dessen ständige Militärhilfe an Thailand. Ein blutiger Guerillakrieg begann, in dessen Folge unzählige Opfer zu beklagen waren. Das vietnamesische Militär seinerseits verlor während der zehnjährigen Besatzung genauso viele Soldaten wie die Amerikaner während des Vietnamkriegs: fünfzigtausend.
Es benötigte lange Jahre, ehe eine internationale Lösung für Kambodscha entwickelt wurde. Mit der UN-Übergangsregierung, die im Mai vergangenen Jahres ihre Mission mit den Wahlen beenden konnte, rückte Kambodscha wieder ins Blickfeld der Welt. Das Land verfügt nun zwar über eine legitime Regierung, die Wunden der Vergangenheit vernarben allerdings nur langsam. Vor allem aber scheint überhaupt noch nicht ausgemacht, um welche Zukunft es sich handeln soll. Die sozialen Unterschiede in der Stadt nehmen groteske Ausmaße an: Mopeds neuester japanischer Bauart kurven um verstümmelte Menschen herum - Opfer der nach wie vor zahllosen Minen im Land. Straßenkinder, von deren Schicksal ich gerade in Cambodia Daily lese, finden hin und wieder einen Touristen: Der etwa zehnjährige Junge, der entweder keine Eltern mehr hat oder aber von diesen nicht mit durchgefüttert werden kann, steht neben mir. Er bittet darum, meinen halb leer gegessenen Teller beenden zu dürfen. Für heute hat er seine warme Mahlzeit gesichert. Nebenan liegt der klimatisierte Supermarkt, in dem die Angehörigen der Botschaften und die Bediensteten der zahlreichen Hilfsorganisationen Waren aus aller Herren Länder gegen amerikanische Dollar kaufen. Diejenigen, die noch beide Beine und eine Rikscha besitzen, konkurrieren mit der wohl modernsten Flotte von Taxen in der ganzen Welt: Keines der mittlerweile die Straßen füllenden Autos ist älter als zwei Jahre, und jedes verfügt über eine Klimaanlage.
Zwar wächst die Bevölkerung rasch, über nahende Hungerkatastrophen müßte man sich theoretisch jedoch kaum Sorgen machen. Ein Blick aus den geöffneten Fenstern des foreign correspondents club auf den Tonle-Sap-Fluß verrät den Grund. Zu dieser Jahreszeit ist er tief unten in seinem Flußbett eingegraben. Aufgeschüttete Deiche schützen die Stadt vor dem alljährlich wiederkehrenden Hochwasser. Die Lebensader Indochinas, der im entfernten Tibet entspringende Mekong, schwillt durch Schneeschmelze und die Regenzeit ab April an. Im südlichen Zipfel Vietnams, bis letztes Jahrhundert zu Kambodscha gehörig, mündet der Riese in das Südchinesische Meer. Das Mekong-Delta, eine der Reiskammern Vietnams, ist außerordentlich dicht besiedelt und leidet fast niemals an Überschwemmungen. Dies liegt an einem einzigartigen Öko-System: Zur Regenzeit wechselt der Fluß seine Fließrichtung und dreht nahe Phnom Penh in Richtung Nordwesten in den Tonle-Sap-Fluß ab, statt wie sonst üblich ins Delta weiterzufließen. Die gewaltigen Wassermassen ziehen an Phnom Penh vorbei und ergießen sich in den Binnensee im Herzen Kambodschas, den Ton-le-Sap-See. Dieser wächst daraufhin bis zum Zweieinhalbfachen seines Umfanges an. Die mitgeführten Fische sind so zahlreich, daß man lediglich eine Angel hineinhalten muß, um sie zu fangen. Kambodscha ist so fruchtbar, daß es heißt, in jeder Pfütze schwimme ein Fisch und wachse ein Reiskorn. Dieser natürliche Reichtum minderte die Folgen des Schreckensregimes der Khmer Rouge ab, ließ die beiden Nachbarn Thailand und Vietnam jedoch immer wieder mit begierigen Augen über die Landesgrenzen schauen.
Die Ausmaße dieses fischreichen Binnengewässers werden auf dem Flug von Phnom Penh in das Provinzstädtchen Siem Reap erkennbar. Der Flugkapitän begrüßt auf englisch, mit deutlichem französischen Akzent, seine Passagiere in der geleasten neuen Maschine eines französischen Flugzeugbauers auf dem einstündigen Flug zum Ausgangspunkt einer Tour zu den gewaltigen Ruinen von Angkor. Dreißig Minuten lang sieht man von hoch oben das Nordufer des Tonle-Sap-Sees; seit neuestem wird die Strecke viermal täglich geflogen. Man baut auf den Tourismus, auch um zu verhindern, daß man wieder so vergessen wird wie damals. Aber man hat auch wirklich Einmaliges zu bieten. Das Besichtigungsticket weist für 41 amerikanische Dollar die Berechtigung aus, zwei Tage lang den „kleinen Kreis" um Angkor zu ziehen. In diesem etwa zehn Quadratkilometer großen Gebiet sind die bekanntesten Angkor-Tem-pel zu besichtigen: Angkor Wat, die gigantische Tempelanlage, die mit ihren drei Türmen auf der kambodschanischen Nationalflagge abgebildet ist; Angkor Tom, die frühere Hauptstadt, mit dem Bayon in der geographischen Mitte, einem der mysteriösesten und beeindruckendsten Tempel: Von den unzähligen Türmen schauen in alle Richtungen riesige, grinsende Köpfe herab; Ta Promh, die von den französischen Entdeckern im letzten Jahrhundert im Urzustand belassene Tempelanlage, ist mit Urwaldriesen überwuchert. Die zwei Tage reichen kaum aus, um den kleinen Kreis gründlich zu ziehen. Hat man jedoch mehr Zeit, dann lohnt sich eine Fahrt mit einem allerorten in Siem Reap zu mietenden Moped über Land: Das gesamte Gebiet von Angkor ist etwa sechzig Quadratkilometer groß, überall sieht man Tempelanlagen, manche überhaupt noch nicht restauriert, an anderen wird gerade erst begonnen. Der Unesco-Beauftragte schildert die Aufgabe als Jahrhundert werk: „Wir wissen gar nicht, wo wir anfangen sollen." Während der vietnamesischen Besatzung wurde das gesamte Gebiet von Angkor durch die Roten Khmer vermint. Französische Suchtruppen haben mittlerweile alle zugänglichen Tempelanlagen von Minen befreit. Gebiete, in denen sie noch nicht waren, sind abgesperrt und mit Schildern gekennzeichnet. Auf der Sandpiste zum dreißig Kilometer entfernten Tempel Bantea Srei, einem wegen seiner filigranen Steinmetzarbeiten sehr beeindruckenden Bauwerk, kommt man hin und wieder an Stellen vorbei, die entsprechend gekennzeichnet sind. In Bantea Srei halten sich die dorthin abkommandierten, mit Maschinengewehren bewaffneten Soldaten mit den Touristen die Waage. Nur wenige finden den Weg hierhin, wegen der Entfernung und der schwierigen Wegstrecke. Die Soldaten haben einen doppelten Auftrag: den Touristen das subjektive Gefühl der Sicherheit zu vermitteln in einem Gebiet, das recht nahe an den von den Roten Khmer kontrollierten Gegenden liegt, und die Tempelanlage vor den Touristen zu schützen: Figuren, Friese und Steinköpfe sind mittlerweile auf den Märkten Bangkoks aufgetaucht. Manch ein Kunstsammler hat sie wohl lieber im Keller als dort, wo sie hingehören.
Der Rückflug nach Phnom Penh verzögert sich etwas: Auf dem kleinen Inlandsflughafen von Siem Reap gibt es keine Röntgengeräte. Dafür jedoch ein kleines Zimmer, in das jeder Fluggast mit seinem Gepäck gebeten wird. Die Kontrolle ist gründlich und beruhigend: Was läge näher für die Roten Khmer, um die gewählte Regierung in Phnom Penh zu destabilisieren und die dringend benötigte Devisenzufuhr durch Touristen zu unterbrechen, als in eines der Flugzeuge eine Bombe zu schmuggeln? Dieser Gefahr ist sich Kambodscha bewußt, das nie so vergessen werden will wie in der jüngsten Vergangenheit.