FRANKFURTER RUNDSCHAU 15.10.1994


Wenn ein Traum zum Alptraum wird
Das Kidnapping westlicher Touristen gefährdet die Zukunft Kambodschas als Reiseland
Von Volker Klinkmüller


Leuchtend grüne Reisfelder mit Zuckerpalmen und strohgedeckten Hütten, dschungelbedeckte Berge, eine Küste mit weithin unberührten Stränden — und die majestätischen Tempelanlagen von Angkor Wat, die mit ihren einzigartigen Steinreliefs als „achtes Weltwunder" zu den größten Kunstschöpfungen der Menschheit zählen: Das touristische Potential Kambodschas ist gewaltig, doch in Reise-Katalogen hat dieses Land eigentlich nichts mehr zu suchen. Seit dem Abzug der Vereinten Nationen im September 1993 ist es dem bürgerkriegsgeplagten Königreich nicht gelungen, zu Frieden und Normalität zurückzufinden. Wer sich den Traum von Angkor Wat erfüllen will, muß unter Umständen mit einem Alptraum rechnen — so wie ihn zur Zeit der Brite Mark Slater (28), der Australier David Wilson (29) und der Franzose Jean-Michel Braquet (27) durchleben: Die drei Touristen sind bei einem blutigen Zugüberfall der Roten Khmer, die mit rund 10 000 Guerillas noch immer ein Fünftel Kambodschas kontrollieren, gekidnappt worden.
Pro Person 46 000 Dollar in Gold fordert „Commander Paet", der in dieser Region rund 300 Rebellen befehligt, für die Freilassung. Außerdem sollen westliche Staaten öffentlich versprechen, der kambodschanischen Armee die angekündigte Militärhilfe zu verweigern. Die Entführung wird aber auch als wirksamer Racheakt gegen die Regierung betrachtet, die die Roten Khmer gerade erst per Gesetz als „outlaws" geächtet hat.
Am 26. Juni mittags gegen 14 Uhr hatten die Roten Khmer den Eisenbahnzug, der aus Phnom Penh zum Küstenort Sihanoukville unterwegs war, östlich des Städtchens Kampot durch eine Minen-Explosion zum Entgleisen gebracht und anschließend beschossen. Seit Jahresbeginn war es bereits der vierte Überfall auf jene Zugverbindung. Dieses Mal wurden 13 Einheimische getötet, die Ausländer gemeinsam mit 16 Kambodschanern, drei erbeuteten Autos, 50 Motorrädern, Vieh und den Wertsachen von rund 300 Passagieren in das 15 Kilometer entfernte Lager auf dem Phnon Vour (Berg Vine) verschleppt, den die Roten Khmer seit 1979 besetzt halten. Die Entführung der Touristen war offenbar geplant. Wie sich herausgestellt hat, sind bereits bei der Abfahrt in Phnom Penh Agenten mit in den Zug gestiegen, die die drei Westler nach der Explosion gewaltsam an der Flucht hinderten.
Inzwischen ist um die Touristen ein heftiger Kampf entbrannt. General Veng hat den Berg Vine mit seinen Regierungssoldaten umzingelt, fordert jedoch acht weitere Panzer, zwei Helikopter und eine Batterie 105-mm-Kanonen, um die Geiseln zu befreien. Gleichzeitig hält er — offenbar ohne Rücksicht auf die Gefangenen — das Gebiet der Roten Khmer unter Granatfeuer. In Videofilmen, persönlichen Briefen und diktierten Mitteilungen flehen die Touristen, das Bombardement endlich einzustellen. „Ihr tötet nur unschuldige Bauern", beteuerte der gekidnappte Marc Slater barfuß und abgemagert vor der Videokamera seiner Entführer. „Wenn das Bombardement nicht aufhört, wird es keinen Lösegeld-Austausch geben". Diplomaten und Sicherheitsexperten haben sich allerdings sowieso gegen die Zahlung von Lösegeld gewandt, weil dann jeder Ausländer zum Freiwild werden würde. Ein Freikauf der Geiseln würde das Land höchst unsicher machen. Diesen Eindruck hat König Sihanouk, der in einem Brief an Khieu Samphan — den nominellen Führer der Roten Khmer — um die Beendigung der Geiselnahme gebeten hat, offenbar schon längst: Das Staatsoberhaupt hat ausländische Touristen gewarnt, durch das Land zu reisen, weil ihre Sicherheit nicht garantiert werden könne.
Trotzdem beteuern die Behörden, daß die touristischen Zentren Phnom Penh, Angkor Wat und Sihanoukville 1OOpro-zentig sicher seien, „genauso wie es London, Paris oder New York sind." Das wird von der deutschen Botschaft in Phnom Penh, die erst im September letzten Jahres ihren Betrieb aufgenommen hat, ähnlich gesehen. Fast täglich gehen dort Anrufe von Bundesbürgern ein, die sich gerade in den Nachbarländern aufhalten und sich vor ihrer Einreise über das aktuelle Sicherheitsrisiko informieren wollen. „Für derartige Auskünfte stehen wir gern zur Verfügung", betont Geschäftsträgerin Birgitt Ory (Telefon 00855/23/26153), die zur Zeit allerdings dringend von Überlandfahrten abrät und ausschließlich die Benutzung des Flugzeugs empfiehlt. „Kambodscha sollte aber nicht auf die Roten Khmer oder Kidnapping reduziert werden. Wer Lust hat, Angkor Wat zu sehen, sollte es auch machen!"
Ungeachtet der komplizierten Sicherheitslage träumt die kambodschanische Regierung weiterhin davon, den Tourismus zum Motor des wirtschaftlichen Aufstiegs zu machen. „Ohne Besucher gibt es keine Devisen und keine Arbeitsplätze. Wir müssen unsere Infrastruktur entwickeln, — mit oder ohne die Roten Khmer!", bekräftigt Minister Veng Sereyvuth, der in der neu gewählten Regierung für Fremdenverkehr zuständig ist. 1997 möchte er zum „Jahr des Tourismus" machen, zur Jahrtausendwende erhofft er sich bereits eine Million Besucher. Das schien nicht ganz unrealistisch, zumal in diesem Jahr gegenüber 1993 monatliche Wachstumsraten zwischen 27 und 116 Prozent verzeichnet wurden. Bis Ende Juli kamen 73 600 Touristen nach Kambodscha, darunter rund 10 300 Franzosen, 7800 Amerikaner, 6600 Chinesen und 1380 Deutsche. Für die zweite Jahreshälfte jedoch muß wegen der Entführungen mit erheblichen Besucher-Rückgängen gerechnet werden. Allein im August wurden rund 40 Prozent der Gruppenreisen nach Kambodscha storniert. Daher wird sich die Prognose von 250 000 Besuchern für 1994 wohl kaum erreichen lassen.
Dabei war der Beginn des Tourismus in Kambodscha äußerst verheißungsvoll: Ende der 60er Jahre kamen bereits bis zu 80 000 Besucher. Doch dann wurde das Land in den Vietnamkrieg gezogen. Erst durch den von den Vereinten Nationen kontrollierten Waffenstillstand und die freien Wahlen im Mai 1993 ist der Tourismus wieder aufgekeimt: Reisten 1990 nur 3500 Touristen nach Kambodscha, waren es 1991 rund 33 000, 1992 bereits 88 000 und 1993 sogar schon 118 000.
Eigentlich hat wohl niemand ernsthaft daran gezweifelt, daß die von der 22OOOköpfigen, spendablen UNTAC-Streitmacht mit Hotels, Restaurants und Nachtclubs aufgebaute Infrastruktur den Grundstein für einen neuen Touristen-Boom bilden wird. Doch nicht zuletzt durch die Entführung von Touristen hat sich einmal mehr gezeigt, daß die Roten Khmer durch Terror und Sabotage noch immer in der Lage sind, direkt oder indirekt die Geschichte Kambodschas zu bestimmen. Die Belegungsraten der Hotels in Phnom Penh sind bis Ende Juli von bisher 35 auf ganze 15 Prozent zurückgefallen. Ein komfortabel ausgestattetes Hotelzimmer mit Aircondition, Kühlschrank, Telefon und Satelliten-Fernsehen, für das zu UN-Zeiten 80 Dollar hingeblättert werden mußte, ist jetzt für ein Viertel des Preises zu haben. Trotzdem bemüht sich die Regierung hartnäckig, Investoren für weitere Anlagen in das Land zu locken: Hotels und andere Tourismus-Projekte bekommen nach einem Anfang August verabschiedeten Gesetz eine lOOprozentige Steuerbefreiung für das erste Betriebsjahr und alle Materialien, die zu ihrer Verwirklichung importiert werden müssen.
In Phnom Penh sind bereits einige Großbaustellen in Betrieb. Ein Konsortium aus Singapur läßt das 13stöckige „Olympic-Hotel" hochziehen. Es kostet rund 50 Millionen Dollar und soll im Juni 1995 fertig sein. Unterdessen werkeln Heerscharen von Arbeitern am Mammut-Projekt „Hotel Regency" herum, das von einer thailändischen Firma errichtet wird. Schwerpunktmäßig denkt Tourismus-Minister Veng Sereyvuth jedoch daran, den Küstenort Sihanoukville zum internationalen Seebad auszubauen. Unter seinem Slogan „Millionen Besucher bringen Milliarden Dollar" sollen eines Tages 30 Hotels die bisher einsamen, unverbauten Sandbuchten zieren. Golfplätze, ein Casino und ein Yachthafen sind genauso gewünscht wie ein internationaler Flughafen als zweites Tor nach Kambodscha. Doch vorerst quält sich die Regierung noch damit herum, 100 Millionen Dollar für den Ausbau des Pochentong-Airports in Phnom Penh aufzutreiben. Dieser nämlich läßt bisher elementare Sicherheitsstandards und jeglichen Komfort vermissen, so daß manchen Touristen schon bei der Ankunft in Kambodscha das kalte Grauen packt.