Frankfurter Rundschau 8.1.1994


Meisterwerk im Minenfeld
Angkor Wat in Kambodscha wartet auf Auslandshilfe und Entdecker
Von Steffan Heuer


Heiße Stille, nur das Blut pocht in den Schläfen. Die fast hüfthohen Steinstufen müssen wie ein Gebirgspfad erklommen werden, bevor den Besucher in 55 Metern Höhe das rettende Halbdunkel des Tempels schluckt. Beschattet vom mächtigen Türsturz läßt er den Blick über den flimmernden Dschungel schweifen, aus dem die Ruine von Angkor Wat emporwächst. Eine kahlgeschorene Alte mit weißem Baumwollhemd und weiten schwarzen Hosen, die im Dunkel auf einer Bastmatte gedöst hatte, erhebt sich und bietet glimmende Weihrauchstäbchen als Opfergabe für Buddha an, während ein Junge neben der Statue auf seiner Flöte spielt.
Angkor, eines der größten architektonischen Meisterwerke der Menschheit, ist heute eine vom Massentourismus noch verschonte Oase. Gerade 10000 Besucher wagten das Abenteuer im letzten Jahr. Grund dafür ist die Lage der Ruinenstadt im Nordwesten Kambodschas — mitten in einem Minenfeld; mitten in einem Land, das zum Symbol für Krieg und hunderttausendfachen Tod geworden ist. Wer durch das Eingangstor von Angkor Wat geht, stößt auf ein zehnjähriges Mädchen, das am Weg sitzt und bettelt. Die Münzen kann sie nur mühsam aufheben, da ihr eine Mine beide Unterarme und ein Bein wegriß. Kambodschaner, die den Schatten der Ruinen suchen, gehen achtlos an ihr vorüber. Fast 20 Jahre Krieg und Terror der Roten Khmer haben sie an diesen Anblick gewöhnt. Noch im Mai starben Zivilisten im Kugelhagel auf den Straßen der Provinzhauptstadt Siem Reap vor den Toren von Angkor. Der Frieden, den UN-Soldaten in der von Reisfeldern umgebenen Kleinstadt schützen sollen, nährt nun die Hoffnung auf mehr Besucher und auf eine internationale Hilfsaktion, um Angkor zu retten.
Französische Archäologen waren es, die 1908 damit begannen, die Ruinen des untergegangenen Khmer-Reiches freizulegen und zu rekonstruieren. Bis Anfang der 70er Jahre dauerte ihr Wiederaufbau, dann überzog der Vietnamkrieg auch Kambodscha. Die „verlorene Stadt" Angkor im Dschungel Indochinas war seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert beliebtes Thema in Reiseführern und in der Fachliteratur gewesen. Als die westlichen Experten zum Abbruch ihrer Arbeit gezwungen wurden, war Angkor wieder sich selbst überlassen und den Roten Khmern. Sie und die seit 1979 von Vietnam eingesetzten Funktionäre schlugen Buddhafiguren die Köpfe ab, verscherbelten Statuen und Fries-Bruchstücke ins Ausland.
Angkor ist ein fast unerschöpflicher Jagdgrund für Antiquitätsräuber. Über 100 Tempel entstanden auf Geheiß der Khmer-Könige zwischen dem 9. und 13. Jahrhundert. Die Monumentalbauten von Angkor („die Stadt") dienten prunkvoller Repräsentation wie religiöser Verehrung von Hindus und Buddhisten. Angkor Wat, in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts errichtet, ist sicherlich der imposanteste Vishnu-Tempel, der jemals gebaut wurde.
Das Wahrzeichen Kambodschas ziert Flagge und Geldscheine.
Ein fast 200 Meter breiter Wassergraben umgibt auf über fünf Kilometern Länge den rekonstruierten Tempelbezirk. An Bassins vorbei, in denen nackte Kinder schwimmen, führt eine breite Allee zum Haupttempel, dessen kegelförmiger Turm von Kolonnaden umrahmt ist. Buddhastatuen ohne Kopf in den schattigen Galerien sind stumme Zeugen der Antiquitätenjäger. Die wenigen unversehrten Standbilder werden von freundlichen alten Frauen geschmückt und behütet.
Dicke Mauern umgeben weiter nördlich Angkor Thom. Fast eine Million Einwohner soll die Hauptstadt des Khmer-Reiches gehabt haben, bevor thailändische Soldaten sie 1431 plünderten. Die Könige regierten von da an aus Phnom Penh. Angkor Thom, das eine Fläche von zehn Quadratkilometern bedeckt, scheint jener Ort zu sein, an dem sich der Art Director von „Idiana Jones" seine Ideen holte. Riesige Tribünen für Festzüge wachsen aus dem Gestrüpp. Im Mittelpunkt der Stadt ragt der Bayon-Tempel empor, ein sandsteinernes Labyrinth mit 49 Türmen, von denen 172 lächelnde Gesichter der Gottheit Avalokiteswara in alle Himmelsrichtungen blicken. Zu ihren Füßen windet sich ein kilometerlanges Relief um das Gebäude, auf dem kambodschanischer Alltag vor 800 Jahren festgehalten ist. Heute rumpeln Laster mit Soldaten in zusammengewürfelten Uniformen über die Straßen Angkor Thoms.
Wenn am späten Nachmittag die Sonne die Ruinen safrangolden färbt, ist die beste Zeit, um die dritte große Stätte der Khmer-Herrscher zu besuchen: Ta Prohm. Dieser Buddhatempel aus dem 12. Jahrhundert, einst Wohnort tausender Mönche, wurde nach Einwänden von Restaurationskritikern nicht wieder aufgebaut, sondern nur freigelegt. Die Urgewalt des Dschungels verschlingt das Bauwerk nun Stück für Stück wieder. Lianen ranken sich um moosbewachsene Pfeiler, auf denen sich ein Reigen festlich geschmückter Tänzerinnen nur noch in Umrissen erkennen läßt. Vom Hauptgang, der kerzengerade durch den Tempel führt, zweigen immer wieder sich verästelnde Pfade ab. Sie enden schon bald im Wurzeldickicht eines Baumes, der die Steinquader unter sich wie Bauklötze zusammengeschoben hat. Je tiefer die Sonne sinkt, desto geheimnisvoller wird das Farbenspiel aus Stein, Dschungel und Lichtstrahlen, die durch Spalten und Säulengänge fallen.
Bis die UN im März 1992 auf Zeit die Verantwortung in Kambodscha übernahm, war eine organisierte Tour nach Angkor streng reglementiert und eine der wenigen Devisenquellen für die sozialistische Regierung in Phnom Penh. Besucher mußten 120 US-Dollar bezahlen, um die Ruinen zu sehen. Das Geld verschwand allerdings in den Taschen der Funktionäre, anstatt der Erhaltung von Angkor zugute zu kommen.
In einer gemeinsamen Anstrengung von UNESCO und 31 Ländern unter Federführung Japans und Frankreichs soll das zum Weltkulturerbe erklärte Ensemble nun gerettet werden. Schutz vor Neubauten und Straßen erhoffen sich Experten durch einen „Zoning and Environmental Management Plan". Auf einer Konferenz in Tokio im Oktober sicherten die Teilnehmerstaaten finanzielle Unterstützung zu, darunter auch die Bundesrepublik.
Hilfe zur Selbsthilfe ist das langfristige Ziel. Kambodschaner sollen ausgebildet werden, über ihr Erbe zu wachen und sanften Tourismus zu entwickeln. Bislang ist es eine etwas unbeholfene Herzlichkeit, mit der Touristen in Siem Reap begrüßt werden. Wer von seiner Gastfamilie Abschied nimmt, bekommt eine Visitenkarte in die Hand gedrückt, handgemalt, und manche haben die Umrisse der Türme von Angkor Wat als Hintergrund.