DIE ZEIT 13.1.1995


Sechs Ausländer wurden im letzten Jahr in Kambodscha ermordet, ein Deutscher wurde entführt. Doch Rucksacktouristen setzen sich immer wieder Risiken aus

Trügerische Sicherheit

Von Martina Miethig


Das Haus an der 182. Straße, Ecke 107. im Zentrum Phnom Penhs ähnelt mehr einer schäbigen Absteige als dem Namensvetter in Washington: Das Hotel „Capitol" gilt als Treffpunkt für westliche Abenteurer und Aussteiger; Neuankömmlinge und alte Südostasien-Hasen tauschen sich hier aus; kurzgeschorene Söldnertypen und schlaksige Junkies streifen umher. Man schwatzt und schwitzt unterm Ventilator. Deutsche, kanadische und japanische Traveller hocken bei Cola und Angkor-Beer zusammen. Hin und wieder kommt das kambodschanische Leben direkt auf sie zu: ein Mann auf zwei Krücken mit flehendem Blick, ein zeitungverkaufendes Kind mit schwarzen Stummelzähnen.
Karen und Les sitzen an einem der klebrigen Tische und tüfteln an ihrer Weiterfahrt durch den seit sechzehn Jahren bürgerkriegzerrütteten Khmer-Staat. Die beiden Australier wollen Richtung Norden zu den tausend Jahre alten Tempelruinen von Angkor: Mit dem Boot über den riesigen Tonle-Sap-See soll es nur 15 US-Dollar kosten statt der 94 Dollar fürs Flugticket. „Eine halbe Stunde im Flugzeug, das ist doch langweilig", meint Karen. Sie findet es „aufregend, mal was anderes zu machen, abseits der Touristenströme". Nervenkitzel im Land der zehn Millionen Minen.
Pan See Pong freut sich über solche Gäste - und hofft, daß sie in sein Hotel zurückkommen. Denn seit dem Frühjahr, nach den Kämpfen im nordwestkambodschanischen Pailin und in Battambang, stehen zwei Drittel der Zimmer leer, klagt der Besitzer des Hotels „Capitol". Dabei fing das vergangene Jahr mit über 70000 Kambodscha-Urlaubern in der ersten Jahreshälfte verheißungsvoll an - eine Verdoppelung, jubelte die Tourismusbehörde.
Seit den ersten demokratischen Wahlen unter UN-Aufsicht im Mai 1993 versucht das jahrelang isolierte Land, sich von Chaos und Terror zu lösen. Mit unternehmerfreundlichen Gesetzen und einer Million Dollar Werbeetat wird in internationalen Zeitungen um Investoren und Touristen geworben. An allen Ecken schießen die Hotelbauten und Restaurants aus dem Boden, deren Namen die Sehnsüchte vieler Kambodschaner ausdrücken: „Freiheit", „Gleichheit", „Gesundheit". Doch allmählich verwaisen die Barhocker in Phnom Penh. Rund 20000 Blauhelme haben Platz gemacht, aber die erhoffte Schar an zahlungskräftigen Pauschaltouristen bleibt vorerst aus.
Wenn die Sonne hinter dem Mekong untergegangen ist, verschwinden die fast eine Million Bewohner der Hauptstadt in ihren Wohnbaracken und Wellblechhütten. In den meisten Häuserblöcken flackert Kerzenlicht, ab und zu blitzt eine Taschenlampe auf. Nur die knatternden Generatoren bleiben von der Geräuschkulisse des Tages übrig: So können die bunten Lichterketten an den Hotelfassaden weiterblinken, wenn mal wieder der Strom ausfällt. Gegenüber dem Hotel „Morakat" bereitet sich ein Mann sein Nachtlager: Über einen Tisch wirft er eine Art Moskitonetz, bevor er die Badelatschen abstreift und sich in sein „Bett" legt. An einigen Ecken lodern noch Feuer, an anderen hocken zwielichtige Gestalten. Vereinzelt rasen unbeleuchtete Mofas in halsbrecherischem Tempo über die Schlaglöcher. Für 1000 Riel, etwa 60 Pfennig, bringen sie die Ausländer durch die dunkle Stadt.
„Gehen Sie in Phnom Penh bloß nicht nach Einbruch der Dunkelheit allein auf die Straße", lautet der dringende Rat aus der Botschaft. Dabei ist es gar nicht so schwer, sich hinter den düsteren Kulissen sicher zu fühlen: In einigen Bars und Kneipen der Ausländerszene tobt noch das Nachtleben, fließen australisches Bier und bunte Cocktails - ganz wie in New York, wie in Paris oder wie zu Hause. Eine trügerische Sicherheit. Die Zeitungen am nächsten Morgen sind voller Meldungen über Banditenüberfälle mit K59-Handwaffen.
Während König Sihanouk mittlerweile die Touristen vor seinem Land warnt, verkündete der Tourismusmanager Veng Sereyvuth kürzlich im amerikanischen Fernsehsender CNN, daß die Sicherheit der Ausländer auch in der königlichen Ruinenstadt Angkor „hundertprozentig" gewährleistet sei. Die Regierung plane dort sogar den Ausbau der Landebahn zum internationalen Flughafen, ganz in der Nähe der Roten-Khmer-Stützpunkte. Und in der Tat: In dem teilweise vom Dschungel überwachsenen „Weltkulturerbe" trifft man auf Regierungssoldaten mit umgehängtem Gewehr und weinrotem Barett, die pausenlos versichern: „Wir sind nur dazu da, euch zu beschützen." Würden sie nicht von Zeit zu Zeit in der märchenhaften Ruinen- und Götterwelt auftauchen, man könnte Mord und Totschlag mühelos verdrängen.
Von der Nordprovinz Preah Vihear und der gesamten thailändisch-kambodschanischen Grenze aus kontrollieren die Roten Khmer auch nach ihrem offiziellen Verbot im Juli ein Fünftel des Landes. Daher sollen Ausländer nur mit dem Flugzeug nach Angkor und durch das übrige Land reisen. Und auf Landstraßen nur im Konvoi und am hellichten Tag, wenn es denn unbedingt sein muß. Sechsmal bezahlten Urlauber im vergangenen Jahr ihren Leichtsinn mit dem Leben. Im September brachten die Rebellen drei Rucksacktouristen im Süden des Landes um, nachdem die Lösegeldforderungen nicht erfüllt worden waren. Zuvor war eine amerikanische Sozialarbeiterin nach 42 Tagen Geiselhaft freigelassen worden, im Tausch gegen Lebensmittel und Baumaterialien. Urlauber als Faustpfand gegen harte Dollar -oder einen Bulldozer. Bei drei bereits im April verschleppten Ausländern ist unklar, ob sie der neuen Guerillataktik oder Straßenräubern zum Opfer fielen. Ende Dezember ist ein Deutscher geradewegs mit seinem Motorrad vom Nachbarland Thailand ins Rebellengebiet gefahren und dort entführt worden.
Welche Regionen außer Phnom Penh und Angkor ungefährlich sind, weiß keiner so ganz genau, die Gerüchte kursieren, und die Situation kann sich schnell ändern. „Noch vor kurzem fuhr jeder auf der National Route 3 über Kampot nach Süden", erzählt der Sprachlehrer Philipp. „Jetzt traut sich das keiner mehr." Die drei letzten Opfer (ein Brite, ein Australier und ein Franzose) waren mit dem Zug Richtung Süden an die Küste unterwegs - entgegen allen offiziellen Warnungen vor Bahnfahrten und nach diversen Überfällen auf dieser Strecke. Ignoranz oder selbstmörderische Guerillaromantik? Blutiger Bürgerkrieg, leere Palmenstrände und weltberühmte Tempel, diese Mischung scheint einige Rucksackreisende magisch anzuziehen.
Selbst wo von den Massenmördern Pol Pots und seines Nachfolgers Khieu Samphan keine Gefahr droht, sind Touristen auf Abwegen keineswegs sicher. In der Provinzstadt Siem Reap, nahe Angkor, zählt Jeff gerade sein restliches Reiseguthaben. 3000 Riel, das reicht für zwei Cola. Der Amerikaner kann glücklich sein, daß er seinen Reisepaß noch besitzt. Alles andere liegt auf dem Grund des Tonle-Sap-Sees. Die Fünfzehn-Dollar-Bootstour endete als Fiasko: Das vollkommen überladene Boot kenterte im Monsundauerregen, die Passagiere mußten sich aus den Fenstern hangeln, aufs Dach klettern und dort ausharren, bis Fischerboote sie retteten. Zum Glück ist niemand ums Leben gekommen.
Im Hof des Gästehauses liegen die Utensilien anderer Mitreisender zum Trocknen in der Sonne: ein zerfleddertes Tagebuch, Rucksäcke, ein Gitarrenkasten, eine Bibel. Ein labbriger Fetzen entpuppt sich als Reisepaß, ein brauner Klumpen als Marihuana. Ein englischer Photograph pult mit zerknautschter Miene den braunen, klebrigen Film aus seiner Kamera. Er will seine Asienreise hier abbrechen, zwei Monate früher als geplant. Auch ein junger Mann aus Bremen hat genug vom Abenteuer Kambodscha: „Ich wollte ein unvergeßliches Erlebnis haben, und das war es! Einmal und nie wieder." Jeff will es nun offenbar erst recht wissen: Er sucht noch jemanden für die Rückfahrt nach Phnom Penh - per Auto.