Quelle: http://www.tibetfocus.com/kultur/fabeln_print.html

In der endgültigen Fassung der heiligen Schriften Tibets, die im 13. und 14. Jahrhundert beendet wurde, ist auch eine Sammlung von zahlreichen Legenden enthalten. Sie schildern alle in einfach rührender Form die segensreiche Befolgung der empfohlenen Tugenden und demonstrieren die Schädlichkeit bösen Tuns. Besonders charakteristisch sind darunter die buddhistischen Fabeln, die auch in den Kandjur aufgenommen wurden, wie zum Beispiel die Erzählung von der "Übereinstimmung der vier geistigen Brüder". Es ist die Fabel von dem Vogel Rebhuhn, dem Elefanten, dem Affen und dem Hasen, die in gemeinsamem Gedankenaustausch das grundlegende Gebot des harmonischen Zusammenlebens der Lebewesen geklärt haben.

Diese Fabel von der "Übereinstimmung der vier geistigen Brüder", die auch aus alten Sanskritquellen übertragen wurde, ist äußerst volkstümlich. Ihre Illustration, die die vier Tiere übereinander darstellt, immer den Vogel zuoberst, ist als winzige Miniaturzeichnung auf vielen großen Bildrollen zu sehen, um, wie immer und überall den tieferen Sinn des friedlichen Zusammenlebens und Zusammenwirkens der Lebewesen in Erinnerung zu bringen. Daher wird sie auch auf den Einladungskärtchen zum tibetischen Neujahrsfest abgebildet, das nach dem Mondkalender auf Mitte Februar oder Anfang März fällt. Der Vogel wird dabei als glückverheißendes Symbol Buddhas aufgefasst und die ganze Abbildung als "Vereinigung der Nationen". Wegen ihres tieferen Sinnes wird diese Fabel aber auch in tibetischen Schulbüchern abgedruckt, um schon den kleinen Schülern das Grundprinzip der Gemeinschaft der Lebewesen - erklärt durch Tierstimmen - klar zu machen.

 

 

Von der Übereinstimmung der vier geistigen Brüder

«Einst wohnten der Vogel Rebhuhn, der Hase, der Affe und der Elefant zu viert in einem Walde. Jeder von ihnen war überzeugt, der Älteste zu sein, dem die anderen Ehrfurcht schulden. Deshalb trachteten sie durch Gedankenaustausch genau herauszufinden, wer wirklich der Älteste unter ihnen sei.

"Lasst es uns am mächtigen Stamme eines Pipalbaumes bestimmen", sagte der Elefant, "ich entsinne mich, dass mein Körper einst gleich hoch gewesen ist wie die noch junge Krone dieses Baumes."

Der Affe sagte: "Zur Zeit, als dieser Baum noch klein gewesen ist, war selbst mein Körper gleich hoch."

Der Hase sagte: "Selbst ich schlürfte noch die Tautropfen, die ich so gerne habe, von dem Sprössling dieses Baumes, als er nur fünf Finger hoch gewesen ist."

Der Vogel Rebhuhn sagte: "Dieser Sprössling konnte jedoch nur deshalb wachsen, weil ich selbst - von oben - den Samen dieses Baumes auf die Erde gestreut habe."

Daraufhin musste der große Elefant einsehen, dass er jünger sei als die anderen. Danach sahen auch der Affe und der Hase ein, dass der Vogel Rebhuhn der Älteste unter ihnen ist und dass es dem richtigen Verhalten entspräche, dass die Jüngeren dem Älteren Ehrfurcht bezeugen, wie dies von Natur aus den Dingen innewohnt. Nur dadurch wirken die von den beseelten Wesen vollbrachten guten Taten wie das befruchtende Regenwasser auf die Scholle. Dadurch wird auf der Erde die Ernte zunehmen, das Glück gedeihen und Gnade, Ruhm und Reichtum blühen. Zu jener Zeit sagte ein alter Weiser und Seher: "Eben deshalb erläuterten der Elefant, der Affe, der Hase und der Vogel im Walde das Gebot und seine Früchte, wonach die Jüngeren den Älteren Ehrfurcht schulden."»

 


Eine andere Fassung:

Quelle: http://wwwspies.informatik.tu-muenchen.de/personen/preuss/advent97/09.html

Vier Freunde und ein Pfirsichbaum
Ein Märchen aus Tibet

Ein Goldfasan, ein Hase, ein Affe und ein Elefant schlossen in grauer Vorzeit Freundschaft.

Der Goldfasan verstand sich auf die Kunst des Fliegens . Als die Tiere vom wundersamen Pfirsichbaum hörten, der zehntausend Jahre alt war und zu allen Jahreszeiten Früchte trug, beauftragten sie den Goldfasan, einen Schößling zu holen. Nach dreiunddreißig Tagereisen kehrte der Goldfasan zurück. Da sich der Hase auf das Setzen von Bäumen verstand, pflanzte er den Schößling ein. Dem Affen waren die wohlschmeckenden Früchte dieses Baumes bereits bekannt, daher versuchte er durch Düngung das Wachsen zu fördern. Der Elefant hoffte ebenfalls auf ein baldiges Schmausen; deshalb sog er täglich einmal den Rüssel voll Wasser und begoss damit das Bäumchen.

Unter der gemeinsamen Fürsorge wuchs der Baum schnell heran und trug Früchte.

Eines Tages entdeckte der Goldfasan in der außersten Baumspitze die ersten reifen Pfirsiche. `Ich habe den Schößling mühsam herbeigeholt', dachte er, `mein Verdienst ist also am größten! Keiner darf mir verwehren, als erster zu ernten!' So fraß er sich jeden Tag in der Baumkrone satt.

Für den Affen war die Sache auch nicht schwierig. Wollte er etwas fressen, kletterte er auf den Baum, war er satt, kam er wieder herunter.

Auch der Elefant bekam seinen Teil. Er konnte mit seinem langen Rüssel an die unteren Äste reichen und füllte sich seinen Bauch mit Pfirsichen.

Am schlechtesten kam der kleine Hase weg. Er schaute sehnsüchtig zu den Früchten hinauf, deren Duft ihm in die Nase zog, leckte sich die Lippen und hoppelte ratlos hin und her.

Der Baum wuchs höher und höher. Eines Tages erreichte selbst der große Elefant mit seinem Rüssel keine Pfirsiche mehr. So begann der Streit zwischen den Freunden. Elefant und Hase verbündeten sich gegen Goldfasan und Affen: "Diese Ungerechtigkeit dulden wir nicht länger! Nur ihr beiden könnt Pfirsiche ernten, und wir können nichts mehr bekommen, weil der Baum zu hoch für uns ist! Ihr müßt wissen, daß wir es waren, die den Baum gepflanzt und begossen haben!"

Der Hase fügte noch hinzu: "Außer ein paar herabgefallenen Blättern habe ich noch nie etwas von diesem Baum erhalten!"

Aber der Goldfasan und der Affe waren nur auf sich bedacht und scherten sich überhaupt nicht um diese Vorhaltungen. Als der Elefant und der Hase schließlich nicht weiter wussten, suchten sie einen Weisen auf, der den Streit entscheiden sollte. Der Weise sprach: "Ihr vier solltet ablassen vom Streit! Soweit ich weiß, gab es hier ursprünglich keinen solchen Baum. Woher stammt also dieser Baum, und wie ging es zu, daß er hier gewachsen ist? Wenn ihr mir das sagt, kann ich euch vielleicht einen Rat geben."

"Weiser!" fing der Goldfasan an. "Ich stimme dir zu, daß es hier ursprünglich einen solchen Baum nicht gab. Ich habe in dreiunddreißig harten Tagereisen einen Schößling herbeigeschafft. Sollte ich bei solch großen Verdiensten keine Früchte ernten dürfen?"

"Es trifft zu, dass der Goldfasan den Schößling herbeigeschafft hat", sagte der Hase, "aber er wusste damit nichts anzufangen. Erst als ich daran ging, den Schößling einzupflanzen, ist ein Baum daraus geworden. Nur ein paar Blätter, die zufällig herabfielen, habe ich verspeisen können. Wie allerdings die Pfirsiche schmecken, weiß ich bis heute noch nicht! Sag, ist das gerecht?"

"Auch meine Verdienste sind nicht gering", sagte der Affe. "Erst durch mein regelmäßiges Düngen konnte der dünne Schößling zu einem starken Baum gedeihen!"

"Obwohl der Schößling hergebracht worden ist", bemerkte der Elefant, "ihn einer gepflanzt hat und ein anderer für Düngung sorgte, wäre der Schößling ohne mich vertrocknet. Daher habe ich jeden Tag mit meinem Rüssel Wasser aus dem Fluss herbeigeschafft und ihn begossen. Erst dadurch konnte der Baum wachsen! Warum sollte ich bei solchen Verdiensten keine Früchte genießen dürfen?"

Darauf sprach der Weise: "Wenn dem so ist, dann hat jeder von euch für das Wohl des Baumes gesorgt. Jeder verdient deshalb, von den Früchten zu essen! Der Streit zwischen euch wird sofort aufhören, wenn ihr gründlich darüber nachdenkt, auf welche Weise alle der Früchte teilhaft;g werden können. Dann wird das Misstrauen zwischen euch verschwinden und dafür die Brüderlichkeit wieder ihren Platz einnehmen!"

Diese Worte leuchteten allen ein. Sie berieten sich und fanden die richtige Lösung: Sie wollten von nun an immer gemeinsam ihr Mahl einnehmen! Der Elefant sollte sich unter den Baum stellen, der Affe auf den Rücken des Elefanten und der Hase auf den Rücken des Affen klettern. Und der Goldfasan müsste auf den Rücken des Hasen fliegen. Dann sollte der Goldfasan die Pfirsiche pflücken und dem Hasen hinabreichen, dieser sollte sie dem Affen und der Affe dem Elefanten geben.

Auf diese Weise lernten die vier Freunde in Eintracht die wunderbaren Früchte eines wunderbaren Baumes zu ernten und zu verzehren.


Quelle: http://www.txtoo.de/2006/09/tibet-tod-kultur-dach-der-welt/

"........In den entstehenden Schriften finden sich auch viele für den Menschen einfache Geschichten wieder. Es handelt sich hierbei um Fabeln, mit denen Situationen oder auch soziale und gesellschaftliche Handlungsweisen erklärt werden. Auch wird darin die negative Sicht- und Vorgehensweise beschrieben, wenn man sich nicht an bestimmte ethische Normen hält. Oftmals erinnern diese Geschichten an Märchen, wie wir sie auch von den Gebrüdern Grimm oder aus anderen deutschen und europäischen Kinder- und Märchenbüchern kennen.
Sogar Parallelen zwischen unseren Märchen und tibetanischen Fabeln kommen dabei zum Vorschein.
Die bekannten ‘Bremer Stadtmusikanten’, - Esel, Hund, Katze und Hahn, - finden in den buddhistischen Fabeln der Kandjur, und auch alten Sanskritquellen, ihre vergleichbaren Gegenstücke. Hier geht es um die geistige Übereinstimmung zwischen einem Elefanten, Affen, Hasen und Rebhuhn. Die Bedeutung liegt darin, dass, wie unterschiedlich die Lebewesen auch sind, so gleich sind sie einander. Sie gehören in einem friedlichen Miteinander alle zusammen, ohne Ausgrenzung, Diskriminierung oder sogar Rassenhass. Ohne Hass und Gewalt unter den Leben kann es nur Frieden und Freiheit für ein jedes Wesen geben. Gemeinsam bildet man die Gemeinschaft, in der man sich gegenseitig braucht. Diese Fabel selber ist auch als Sinnbild für eine gemeinsame Welt vereinigter Nationen zu verstehen, in der jedoch das individuelle Leben des jeweiligen Individuums gestärkt werden muss, um eine große Gemeinschaft zu erzielen. Eine Gleichmacherei führt zu Ausgrenzung. Nur wenn die Wesen sich ihrer Unterschiedlichkeiten bewusst sind, erkennen sie, dass sie alle voneinander abhängig sind. Dabei wird ein jedes Leben überaus wertvoll und brauchbar, wie unterschiedlich und anders es auch im ersten Augenblick erscheint....."