Exkurs: Augenzeuge Karl Schaefer


Sehr lesenswert - auch für Nicht-Mescheder - sind die Erinnerungen meines ehemaligen Klassen- und Deutschlehrers Karl Schaefer. Er schrieb sie - in einfacher Sprache - für seine Enkelkinder auf. Karl Schaefer wurde 1931 geboren und war bei Kriegsende 14¼ Jahre alt.

Für mich hat dieses Buch noch eine besondere Bedeutung, da ich eine Reihe der dort erwähnten Personen z.T. persönlich gekannt habe und mein Onkel, damaliger Vikar und späterer Pastor und Dechant Franz-Josef Grumpe, mehrmals erwähnt wird. In mehreren Kapiteln befasst Karl Schaefer sich mit den damals in Meschede lebenden Fremdarbeitern und im Kapitel "Das Sühnekreuz" mit dem Massaker bei Eversberg, dem 'Sühnekreuz' und dem 'Franzosenfriedhof'.


Karl Schaefer: "Die Holzschale der Kahns - Erinnerungen aus meiner Kindheit im Dritten Reich, im Krieg und in der Nachkriegszeit", Archiv der Zeitzeugen 1995, erweiterte Fassung: Telgte, im April 2005


Taschenbuch: 244 Seiten
Verlag: Monsenstein und Vannerdat; Auflage: 1 (1. Dezember 2006)
ISBN-10: 3865824196
ISBN-13: 978-3865824196
vermutl. nur noch gebraucht erhältlich, da der Verlag nicht mehr existiert


Auszug aus: "Die Holzschale der Kahns", Kapitel 'Russen III: Das Sühnekreuz', S. 231 ff

"..... Das folgende Geschehen ereignete sich zwar erst zwei Jahre nach dem Krieg, hatte aber im Krieg seine Wurzeln.

Stellt euch vor, ihr erführet eines Tages, dass man im Wald ganz in eurer Nähe, keine 2 km entfernt, ein Massengrab mit 80 ermordeten Menschen entdeckt hat, eine Grube mit übereinander geworfenen Leichen von Männern, Frauen und Kindern. Und ein paar Tage später stünde in der Zeitung, dass einige km weiter in demselben Waldgebiet ein zweites Massengrab gefunden wurde, mit ebenfalls etwa 80 Kindern, Frauen und Männern.
Genau diese Nachrichten erschütterten mich im Mai oder Juni 1947.

Wie hättet ihr euch gefühlt? Wie hättet ihr reagiert? Meine Reaktionen waren: Nichtglaubenkönnen. So etwas hier bei uns? Unmöglich! Entsetzen. Was sind das für Menschen, die ein solches Verbrechen anordnen? Und die einen solchen Befehl durchführen? Und: Scham. Ich hab euch von meiner Scham, ein Deutscher zu sein, erzählt, als ich von dem Mord der Deutschen an den Juden erfuhr. Aber die Vernichtungslager für die Juden lagen in Polen, waren 1000 km weg.

Jetzt wurde mir bewusst: Die deutsche Mordmaschinerie war auch vor unserer Haustür tätig gewesen. Scham, Wut und Trauer in eins gemischt, das war meine Gefühlslage.
Näheres erfuhr ich von meinem Freund Alfred Filthaut. Er war der Sohn des Amtsdirektors, den die Briten eingesetzt hatten, und vor einigen Monaten in meine Schulklasse gekommen (in die Baracke gegenüber Schule, die ihr schon kennt). Über unsere Liebe zur Musik wurden wir Freunde und sind es bis heute. Sein Vater hat das zuerst entdeckte Grab, das in seinem Verwaltungsbezirk lag, kurz nach der Öffnung gesehen. Die Briten hatten ihn und den Bürgermeister, außerdem die katholischen und evangelischen Geistlichen und den Kreisarzt Petrasch aus ihren Ämtern bzw. Wohnungen abgeholt und sie, ohne ihnen zu sagen, um was es ging, zu der Grube mit den Leichen gefahren. Erschüttert standen sie da und mussten sich das Grauen ansehen. Der englische Stadtkommandant befahl dem Kreisarzt, die Todesursache festzustellen. Dr. Petrasch blieb nichts anderes übrig, als in die Grube zu steigen, auf dem Leichenstapel hin- und herzustapfen und sich die Toten anzuschauen.

Er ging dabei über schwankenden Grund, denn die seit zwei Jahren modernde Leichenmasse bildete einen ziemlichen Matsch. Die Schädel waren am besten individuell erhalten. Dr. Petrasch stellte bei seinen Stichproben fest: Tod durch Kopf- oder Genickschuss.

An den Kleidungs-, Ausweis-, Briefresten, die man bei den Toten fand, wurde schnell klar: Die Ermordeten waren sowjetische Zwangsarbeiter mit ihren Frauen und Kindern.

Ich erfuhr erst jetzt: Die Deutschen hatten manchen russischen Zwangsarbeitern gestattet, mit russischen Zwangsarbeiterinnen zusammenzuleben. (Wahrscheinlich waren sie so zufriedener und leisteten mehr.)

Natürlicherweise kam es dazu, dass so Familien mit Kindern entstanden. Mehr schlecht als recht lebten sie in bewachten Barackenlagern.

Ich fragte mich: Waren vielleicht auch die beiden netten jungen Mädchen aus der Ukraine, die uns einmal fröhlich beim Gartenumgraben geholfen hatten, unter den Toten? Das war gut möglich.

Städtische Arbeiter hoben die Ermordeten aus dem Massengrab, schafften sie auf einen nordwestlich der Stadt gelegenen Waldfriedhof und begruben sie dort.

Dieser Friedhof aber war im Bewusstsein der Bevölkerung kaum verankert. Die meisten Bürger kannten ihn gar nicht. Ich bin meinen Eltern bis heute dankbar, dass sie uns Kinder in früheren Jahren ein paarmal auf Spaziergängen zu diesem ganz versteckten Friedhof geführt haben. Das war während des Krieges gewesen und hatte dazu beigetragen, dass ich meine anfängliche Kriegsbegeisterung zu hinterfragen begann. Denn der Friedhof war der sogenannte Franzosenfriedhof. Nordwestlich von unserer Stadt war im Ersten Weltkrieg ein großes Lager für französische Kriegsgefangene errichtet worden. Durch Ernährungsmangel und Seuchen waren viele Franzosen gestorben, und sie waren auf diesem Waldfriedhof begraben worden.

An den Namen und Daten, die auf den Grabkreuzen und -steinen standen, nahm ich mit den eigenen Augen zum ersten Mal wahr, was Krieg wirklich bedeutet: Krieg bringt früh, viel zu früh die Menschen unter die Erde. Die Eltern verhielten sich auf diesem Friedhof genauso andächtig-still wie auf dem katholischen Friedhof und zeigten uns Kindern auf diese Weise: Die Franzosen (und sicherlich auch die anderen Kriegsfeinde) sind Menschen wie wir, die Deutschen. Hass und Überlegenheitsgefühle sind unlogisch.

Auf diesem Friedhof also bestattete man die ermordeten Russen. Warum auf dem Franzosenfriedhof? Warum nicht auf dem großen Friedhof der Stadt? Dort hatte man doch auch die vielen ortsfremden Opfer des schlimmen Tieffliegerangriffs auf einen Eisenbahnzug bestattet.

Eine öffentliche Beisetzung mit Grabreden des Bürgermeisters oder Amtsdirektors fand nicht statt. Von Franz-Josef Grumpe weiß ich, dass die Geistlichen beider Kirchen auf Befehl der Engländer an dieser Beerdigung teilnahmen und einige Gebete sprachen. Die Bevölkerung wusste nichts davon, sie wurde auch nicht einmal zu einem Gottesdienst für die Ermordeten eingeladen.

Was war da los? Wieso erwies man den so schrecklich Getöteten nicht alle Ehren? Weswegen wurden sie so heimlich begraben, im Grunde nur abermals verscharrt?

Die Erklärung lautet schlicht: Angst vor der Sowjetunion, vor ihrem Herrscher Stalin, vor „den Russen"..................

...........................Und nun diese Entdeckung eines Massenmords an Russen bei unserer Stadt. Die Leute fürchteten: Was machen die Sowjets mit uns, wenn sie uns erobern und erfahren, was ihren Staatsangehörigen hier bei uns angetan worden ist? Würden sie die Stadt endgültig zerstören, uns töten, nach Sibirien verfrachten? Diese Angst schaukelte sich hoch, wurde zur Massenhysterie.
Aus Angst vor den Russen waren sich die meisten Menschen einig: Es durfte keinerlei Verbindung zwischen dem Massenmord und unserer Stadt geben. Wenn die Russen kämen, sollte die Stadt sauber dastehen: Seht her, liebe Russen, wir haben damit nichts zu tun. Das war die SS, nicht wir.

Dieses Verstecken, diese Angsthysterie erzürnte den Bürger Georg Heidingsfelder, einen Angestellten der Volksbank und linkskatholischen Publizisten, der in der von Vikar Grumpe neu gegründeten katholischen Männergemeinschaft eine wichtige Rolle spielte. Ich kannte ihn gut, denn wöchentlich einmal waren meine älteren Brüder und andere junge Männer bei ihm zu Gast, und die nahmen mich und Freund Alfred mit. Wir waren die Jüngsten in diesem hochinteressanten Gesprächskreis, in dem wichtige Zeitthemen abgehandelt wurden.

Der Heidingsfelder Schorsch brachte die Männergemeinschaft und Vikar Grumpe dazu, ein großes, hoch aufragendes „Sühnekreuz“ mit einer Inschrift zum Gedenken an die ermordeten Russen aufzustellen, und zwar an der Reichsstraße 55, an einer Stelle ganz in der Nähe des Massengrabes. Alle Vorbeifahrenden und Vorübergehenden sollten es sehen. Im Beisein der Männergemeinschaft weihten Pfarrvikar Grumpe und Pater Harduin, der neue Schulleiter des Gymnasiums (der spätere Abt Harduin), das Kreuz feierlich ein.

Was geschah? Am nächsten Morgen lag es im Straßengraben. Empörte Bürger der Stadt hatten es über Nacht aus dem Boden gestemmt und hingeschmissen. Mitglieder der Männergemeinschaft stellten es wieder auf und verankerten es noch fester im Erdboden.

Nach ein paar Nächten lag es wieder im Graben, beschädigt durch Axthiebe und Sägeversuche. Wieder wurde es neu errichtet. Und abermals wurde es umgeworfen; diesmal hatte man sogar versucht, es anzuzünden. Noch ein viertes Mal beging man das Sakrileg. Heidingsfelder, der Vikar und die Männergemeinschaft gaben auf.

Aber Heidingsfelder hatte die mehrfache Schändung eines geweihten Kreuzes den örtlichen Zeitungen gemeldet, und die berichteten darüber. Die Stadt geriet in Aufruhr. Nicht wenige Menschen waren für das Sühnekreuz. Die meisten aber waren dagegen. Ihre Argumente: Mit dem Sühnekreuz bekennt sich die Stadt als schuldig an dem Massenmord. Wir können doch nicht sühnen für etwas, was wir nicht getan haben. Wenn die Russen kommen, machen sie Hackfleisch aus uns. Oder sie verfrachten uns nach Sibirien.

Die Befürworter entgegneten: Falls die Russen tatsächlich kämen, würden sie doch aus dem Sühnemal nicht schließen, dass wir, die Mescheder, ihre Landsleute erschossen hätten. Die wüssten doch, das war die SS. Eher würden sie es der Stadt sogar hoch anrechnen, dass sie den Ermordeten ein solch auffälliges Gedenkzeichen errichtet hatte. Mit einem so ehrenvollen Umgang der Deutschen mit sowjetischen Toten hatten sie vielleicht gar nicht gerechnet.

Diese Gründe überzeugten nicht. Schorsch und der Vikar wurden beschimpft, sogar bedroht.

Um den Frieden in der Stadt wiederherzustellen, riefen besonnene Leute zu einer Bürgerversammlung über das Thema Sühnekreuz auf. Sie fand eines Abends in der Aula unseres Gymnasiums statt. Die Aula war rappelvoll. Auch Alfred und ich waren da. Heidingsfelders Worte wurden bebuht und bepfuit. Auf die Rede des Vikars folgte eisiges Schweigen. Auch die zu sanften Mahnungen des berühmten Jesuitenpaters Gundlach (des Verfassers von Enzykliken für Papst Pius XI., bloß war dies damals noch nicht bekannt), der gerade als Besucher Grumpes am Ort weilte, nutzten nichts. Er sagte etwa, Sühne sei ein zentraler christlicher Begriff. Sühnen im christlichen Sinne bedeute kein Eingeständnis einer persönlichen Schuld. Christus habe gesühnt, obwohl er unschuldig war. Aber er sagte das leise, leidenschaftslos, ohne Eindringlichkeit, zu monoton. Wenn ich in die Gesichter der Bürger schaute, sah ich, die verstanden nichts vom Sühnegedanken oder waren fest entschlossen, nichts davon verstehen zu wollen. Das Sühnekreuz wurde mit großer Mehrheit abgelehnt.
Das geweihte Kreuz wurde zunächst auf dem Dachboden der neuen Pfarrvikarie abgelegt. Später vergrub man es in der Erde, mit der man das leere Massengrab gefüllt hatte..........

..........Wie sehr die Stadt sich immer noch schwer tut mit dem Massenmord, der auf ihrem Gebiet geschehen ist, zeigt folgende Tatsache:
Auf dem Franzosenfriedhof wird nirgendwo darauf hingewiesen, dass die dort liegenden Russen von Deutschen ermordet worden sind. (Das gilt jedenfalls bis zum Jahr 2003.) Auf fünf von den sechs deutschsprachigen Gedenktafeln, die man in den Rasen eingelassen hat, steht folgender Text:


HIER RUHEN ...
SOWJETISCHE BÜRGER;
DIE IN DER SCHWEREN ZEIT
1941 – 1945
FERN VON IHRER
HEIMAT STARBEN.
 

Hinter dem Wort „RUHEN“ steht jeweils die Zahl der in dem betreffenden Friedhofsabschnitt Bestatteten. Die Zahlen lauten: 30, 36, 16, 27, 28. Auf dem sechsten Gedenkstein steht derselbe Text, außer dass die Zahlen anders lauten. Die Zahl der hier liegenden Toten ist 80, und in der vierten Zeile steht als Zeitangabe für die „schwere Zeit“ nur: 1945.

Diese 80 sind die im Massengrab bei Meschede gefundenen Menschen. Bei den übrigen Gruppen von Toten handelt es sich ebenfalls um sowjetische Zwangsarbeiter, die während des Krieges in der näheren und weiteren Umgebung ihr Leben verloren haben. Sie mögen nicht ermordet worden sein, doch gewiss ist, dass man ihren Tod nicht als rein „natürlich“ bezeichnen kann. Die meisten werden an den Folgen von schwerster Arbeit, äußerst schlechter Ernährung und gänzlich fehlender medizinischer Versorgung gestorben sein. (Mit „Untermenschen“ durfte man ja so umgehen.)

Kein Wort also von der Ermordung durch Deutsche, keines auch von der unmenschlichen Behandlung der Zwangsarbeiter. Die Russen „starben“, einfach so. Da steht nicht: „wurden ermordet“ oder „kamen infolge von Hunger und nicht behandelten Krankheiten ums Leben“.

Es mag sein, dass die kyrillische Inschrift auf der großen sowjetischen Gedenkstele im Hintergrund des Friedhofs die Wahrheit sagt, aber wer von den Besuchern des Friedhofs kann sie lesen!

„Schwere Zeit“ – eine verräterische Formel, eine wolkige Umschreibung, eine unpräzise, beschönigend-unpersönliche Benennung für die Umstände eines furchtbaren Verbrechens, das doch von ganz bestimmten deutschen Menschen begangen worden ist. Wenn man der Bedeutung dieses verschwommenen Sprachbildes auf den Grund geht, kommt etwa Folgendes dabei heraus: Der Krieg ist einfach so über uns gekommen, ein schlimmes Geschick, wie eine Hungersnot oder ein Erdbeben, dafür kann kein Mensch was. – Der Krieg war grausam, ja, aber für alle, auch für uns, nicht bloß für diese Toten da. – Im Krieg passieren nun mal solche Sachen, das ist unvermeidlich, da kann man nichts dran ändern; was im Krieg geschieht, dafür können wir nichts, das dürft ihr uns nicht vorwerfen. – Solche bedauerlichen Vorfälle kommen eben immer mal wieder vor, das läuft unpersönlich-zwanghaft ab, Verantwortung dafür hat keiner, wir schon gar nicht. Es war halt eine schwere Zeit.

Immerhin haben Jugendliche das Kreuz vor einigen Jahren wieder aus der Erde des Massengrabes gebuddelt und gesäubert. Man hat ihm einen guten Platz in der von Grumpe erbauten Kirche Mariä Himmelfahrt zugewiesen, in der rechten Seitenkapelle neben dem Eingang.

Die Briten haben 1947 eine Untersuchung des Massenmords angeordnet. Die deutsche Justiz ließ sich mit dem Ermittlungsverfahren sehr viel Zeit. Erst um 1955 fand der Prozess gegen einige der Schuldigen statt. Die Hauptschuldigen konnten leider nicht vor Gericht erscheinen: SS-Chef Himmler und der hohe SS-Offizier Kammler. Sie hatten Selbstmord begangen, die Feiglinge, um nicht für ihre Verbrechen geradestehen zu müssen.

Aber einige SS-Offiziere und ihre Helfer standen vor Gericht. Der Prozess erregte großes Aufsehen.
Die Verhöre bewiesen nach meiner Erinnerung, dass es am Ende des Krieges einen Befehl Himmlers gegeben hat, alle russischen Zwangsarbeiter, die noch in der Gewalt der Deutschen waren, zu erschießen, bevor die Alliierten sie befreiten, und dass Kammler mit der Durchführung dieses Befehls beauftragt war. Gott sei Dank konnte er an den meisten Orten nicht mehr befolgt werden, weil die Sieger mit der Eroberung Deutschlands zu schnell vorankamen. (Ich weiß allerdings nicht mehr, ob dieser Prozess am Landgericht den Massenmord bei Meschede zum Gegenstand hatte oder das zweite Massaker bei Warstein.)

An einem Prozesstag habe ich als Student teilgenommen. Besonders an zwei Vernehmungen durch den Richter erinnere ich mich. Der eine Angeklagte war der Sohn eines Großindustriellen (Klönne?) aus dem Ruhrgebiet, damals auch schon in der Leitung des Unternehmens tätig. 1945 war er als junger SS-Offizier an der Durchführung des Mordbefehls beteiligt gewesen. Er berief sich bei seiner Befragung durch den Richter auf die Befehle Kammlers und Himmlers, zeigte aber auch Reue und Nichtmehrverstehenkönnen dessen, was er vor zehn Jahren getan hatte. Leider sprach er ziemlich leise.

Der andere war 1945 ein 18- oder 19-jähriger einfacher SS-Mann gewesen. Die Aussagen anderer Zeugen hatten ihn schwer belastet: Er habe ein kleines Kind an den Beinen gepackt, es mit dem Kopf gegen den Lastwegen geschlagen und in die Grube geschleudert. Dabei habe er gelacht.

Er bestritt das Verbrechen und sagte aus: Es sei an diesem späten Nachmittag Anfang April 1945 schon stark dämmrig gewesen. Die Zeugen müssten ihn mit einem anderen SS-Mann verwechselt haben. Die SS-Kameraden hätten ihm als dem jüngsten Mitglied des Erschießungskommandos das Töten erspart. Er sei nur Beifahrer auf einem der Lastwagen gewesen. Ich glaubte ihm kein Wort, der Richter sichtlich auch nicht.

Ein paar Wochen später las ich die Urteile in der Zeitung: Mehrere Jahre Gefängnis für einige SS-Leute, darunter auch für den Großindustriellen. Der junge Mann mit dem Kleinkind wurde freigesprochen, wegen mangelnden sicheren Beweises.

Vielleicht lebt er noch, der Mann? Er dürfte heute (1997) etwa 71 Jahre alt sein. Falls er schuldig ist: Wie lebt er mit dieser Tat dem eigenen Tod entgegen?


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