Exkurs: Augenzeuge Georg D. Heidingsfelder


Quelle:

Georg D. Heidingsfelder (1899-1967) - Gesammelte Schriften

Eine Quellenedition zum linkskatholischen „Nonkonformismus“ der Adenauer-Ära

Bearbeitet von Peter Bürger

Eslohe 2017

Download pdf-Datei: http://www.sauerlandmundart.de/pdfs/daunlots 87.pdf

darin: Deutsche Kleinstadt in der Restauration - Wahrhaftiger Bericht über ein "Sühnekreuz" (1954), S. 96 ff


 

Deutsche Kleinstadt in der Restauration
Wahrhaftiger Bericht über ein „Sühnekreuz“
(1954)
Arnold Prant [Georg D. Heidingsfelder]


Die Stadt X. [Meschede/Sauerland] ist mit ihren Bürgern und Geistlichen nicht besser, aber auch nicht schlechter als tausend andere. Der Streit um das "Sühnekreuz" beleuchtet aber blitzartig den Sieg des bürgerlich-nationalistischen Christentums über die Gesinnungsrevolution der durch den Hitlerkrieg Belehrten. Ein Volk, ein Abendland, das das „Sühnekreuz“ nicht mehr verstehen und annehmen will, ja seine Schändung duldet und billigt: welch furchtbares Ende wird das nehmen? (D.R.)

März 1947: Kleinstadt X. Vor den Toren wurde ein Massengrab ausländischer Arbeiter entdeckt. 80 Arbeitssklaven fremdländischer Herkunft waren hier verscharrt worden. Der amtsärztliche Befund ergab Kopfschüsse und schwere Schädelverletzungen. Uniformierung und Funde bewiesen, daß es sich um östliche (russische) Zwangsarbeiter handelte.

Und die Reaktion der Kleinstadt? Der Großteil der fast ausschließlich katholischen Bevölkerung machte sich wegen der eigenen Sorgen und Nöte wenig aus der Sache, andere waren zutiefst erschüttert. Zu den letzteren gehörten die Männer des Arbeitsausschusses der katholischen Männergemeinschaft. Sie sahen durch die Entdeckung dem in Not abstumpfenden Volk erneut den Berg von ungesühnter Schuld vor die Seele gerückt, die tiefste Ursache seiner katastrophalen Lage.

Die Stadtverwaltung selbst bereitete den Toten am ... April eine würdige Ruhestätte auf dem „Franzosenfriedhof“ und rief zur Teilnahme am Begräbnis auf. Etwa 150 Personen nahmen teil. Die Geistlichkeit beider Konfessionen waltete ihres Amtes; der evangelische Geistliche sowie der Bürgermeister gedachten in Reden der Opfer des Hitlerreiches.

Die katholische Männergemeinschaft wußte sich jedoch in der Schuldgemeinschaft aller Deutschen. Diese Männer sahen sich aufgefordert, hier und jetzt, angesichts des Massengrabes damit zu beginnen, den Berg der Schuld abzutragen und so den Zorn Gottes zu besänftigen, und zwar im Zeichen des Kreuzes. Am Kreuz ist ja Der gestorben, dessen Dienst die Männer sich verschrieben hatten; für die Schuld Seines [christlichen] und allen Volkes wollten sie am Karfreitag ein Sühnekreuz hinauftragen und in die geweihte Erde pflanzen!

Es ergab sich sehr bald, daß ihr Vorhaben nicht verstanden wurde: der Pfarrer der Stadt ließ sie anläßlich einer ersten Aussprache wissen, er sehe nicht ein, was dieses Sühnekreuz mit dem Karfreitag zu tun habe; er sei deshalb strikte gegen dessen Aufrichtung am Karfreitag. Er erblicke in der ganzen Angelegenheit das Anliegen einiger Außenseiter, mit dem der größte Teil des christlichen Volkes sich nicht identifiziere, weshalb er es für das Beste hielte, die Sache fallen zu lassen.

Nach längerem Hin und Her kam es zu einer zweiten Unterredung mit dem Pfarrer, der auch diesmal erklärte, die größte Mehrheit des Christenvolkes lehne das Unternehmen ab. Daraufhin legten die Männer dar, daß auf dem deutschen Volke ein Berg von Schuld liege, den niemand abtragen wolle; sie sähen sich durch die Entdeckung des Verbrechens in der Nähe der Stadt angerufen, mit der Abtragung zu beginnen. Schließlich wurde eine dritte Konferenz vereinbart, wo die „Probleme“ endgültig geklärt werden sollten. Der Karfreitag verging so ohne Kreuzaufrichtung. Die Männer bemühten sich, auch den Standpunkt des Pfarrers zu verstehen; sie sahen ein, daß er selbst im Dilemma war: entweder mit den Kreuzaufrichtern gegen die Mehrzahl der Gemeinde oder mit der Mehrzahl seiner Gemeinde gegen das Sühnekreuz zu stehen.

Schließlich entschied er sich für die Majorität, die freilich auch soziologisch die gewichtige Majorität war, weil sie vorwiegend aus dem eingesessenen und besitzenden Bürgertum der Stadt bestand. An der letzten Besprechung nahm auch der Kaplan teil; er meinte, dieses Sühnekreuz wäre „etwas ganz Absonderliches“. Schließlich wurde mit dem Pfarrer vereinbart: das Sühnekreuz solle aufgerichtet und durch einen Geistlichen geweiht werden; jedoch sei dies keine Veranstaltung der Gemeinde, sondern eines Kreises von Männern, wobei die Teilnahme jedermann freigestellt sei.

Am ... fand die Kreuzaufrichtung statt. In der Einladung war eindeutig zum Ausdruck gebracht worden, daß in ihr keine Anerkennung der „Kollektivschuld“ liege, sondern der Wille, „eine tiefernste Sühneleistung für die begangene Untat zu vollbringen“. Es nahmen etwa 200 Personen teil, fast ausschließlich Männer. Die Geistlichkeit war durch den Landvikar und Ordensleute und die beiden evangelischen Pfarrer vertreten. Der Pfarrer und Kaplan der Stadt nahmen nicht teil. Das Kreuz trug die Inschrift: „Errichtet zur Sühne für die Ermordung von 80 Fremdarbeitern“.

Alsbald erhob sich aber eine heftige Gegnerschaft. Mit mancherlei Argumenten ging „man“ gegen das Kreuz an; Väter und Mütter, die einen Sohn, Frauen, die den Mann verloren oder in russischer Gefangenschaft hatten, glaubten, das für die „Russen“ aufgerichtete Kreuz ablehnen zu müssen; Militaristen ließen hören, es wären anstelle der achtzig besser achtzigtausend Russen umgebracht worden! Patrioten wogen die Schuld der Siegermächte gegen die deutsche ab und fanden, daß die Waage mindestens gleich stand und daher ein Sühnekreuz überflüssig wäre!!

So kam es am Fest des Heiligen Geistes, Pfingsten 1947, zur Schändung des kirchlich geweihten Kreuzes. Bubenhände hatten sich bemüht, es aus der Erde zu reißen und, als dies nicht gelang, es abzusägen und zu verbrennen. Angekohlt, von Beilhieben beschädigt, so stand das Sühnekreuz nun vor den Toren der Stadt – zum Ärgernis geworden für Christen des Jahres 1947!

Trotz einer Kanzelverlesung, 14 Tage nach der ersten Schändung, hörten die Attacken gegen das Kreuz nicht auf. Ja, die „Männer von der Kreuzaufrichtung“ wollten angesichts der Situation einen letzten Versuch zur „Aufklärung und Verständigung“ machen, weil sie nicht glauben wollten, daß sich die Mehrheit der Stadt gegen das Kreuz der Sühne stelle oder gar die Kreuzschändung gutheiße. Sie beriefen einen öffentlichen „Vortrags- und Ausspracheabend“ ein, in der Meinung, daß es möglich sein müsse, durch vernünftige Aussprache die Mißverständnisse zu beseitigen.

Der Abend fand statt. Vor den überfüllten, brodelnden Saal trat der Bürgermeister der Stadt, um das Anliegen der Kreuzaufrichter in feierlicher Rede zu Gehör zu bringen. Er erinnerte zunächst an die Zahl und den Umfang der unerhörten Verbrechen der Nazis und wurde dabei bereits durch Gemurmel des Unwillens gestört. Als er die Frage wiederholte: „Christen, dürfen wir vergessen, daß ...“ erhob sich lautes Scharren.

Die Gegner sahen nun ihre Stunde gekommen. Ein Kreistagsmitglied trat auf und besprach verschiedene Einwände gegen das Kreuz. Zum Ort des Kreuzes glaubte er sagen zu müssen, daß „echte Heimatliebe“ sich dagegen auflehne, „weil der gute Ruf der Stadt Schaden leiden möchte“. Ein Intellektueller (Professor) trat auf und brachte den richtigen Ton. Zur Kreuzschändung nahm er, unter tosendem Beifall, mit folgenden Worten Stellung: „Ich freue mich, daß in unserer Jugend noch Nationalbewußtsein sitzt!“ Im übrigen beantragte er Entfernung des Kreuzes und Aufstellung auf dem Franzosenfriedhof.

Ein anderer Bürger (Kaufmann), der lärmende Hauptredner des Abends, meinte, man hätte sich bei den achtzig Fremdarbeitern mit dem christlichen Begräbnis begnügen können, und fuhr dann fort: „Die Entweihung des Kreuzes ist dadurch gekommen, daß man es aufgestellt hat!“ Rauschender Beifall! Als er gar noch hinzufügte, daß die Entweiher „in ihren berechtigten Vaterlandsgefühlen“ beleidigt gewesen sein dürften (wir zitieren nach dem Stenogramm), da wähnte man sich in die Zeiten kurz vor der „Machtergreifung“ zurückversetzt, in denen solche Töne Orkane des Beifalls auslösten – und schließlich zum Untergang Deutschlands geführt haben! Daran dachte jetzt aber niemand. Das war versunken und vergessen.

„Entfernung des Kreuzes!“ – „Ausmeißelung der Inschrift!“, das waren die Hauptforderungen! Die Kreuzaufrichter seien überhaupt nicht im Volk verwurzelt! ...

Schließlich sprach auch der Pfarrer einige Worte. Er erklärte, daß er keine Stellung zum Sühnekreuz nehme, legte aber doch, von Zwischenrufen unterbrochen, einige Buß- und Sühnegedanken allgemeiner Art dar. Kreuzschändung habe zu allen Zeiten Gottes Strafe nach sich gezogen. Angesichts der Ablehnung durch die Mehrzahl der Gemeinde plädiere er für die Entfernung des Kreuzes und Aufstellung an einem anderen Orte – ohne Inschrift.

Nach allerlei Zwischenrufen sprach ein evangelischer Geistlicher mit großem Ernst. Es handle sich um eine Sache, die weit über die örtliche Bedeutung hinausreiche. Er wies auf das von Nazismus falsch geleitete Nationalgefühl hin und forderte „Umdenken von Grund auf“. Die „billigen Triumphe, die mit nationalen Phrasen und mit der Ironisierung der Demokratie leicht zu erringen seien, müßten von verantwortungsbewußten Menschen abgelehnt werden“. –

Es zeigte sich jedoch bald, daß die Versammlung diese Botschaft weder verstehen noch annehmen wollte. Ein weiterer Redner betonte erregt, daß das Kreuz selbstverständlich wieder geschändet würde, wenn es nicht „weggesetzt“ werde, was mit lautem Bravo quittiert wurde! Schließlich schlug der Pfarrer vor, man solle das Kreuz entfernen und es den Geistlichen überlassen, wo es wieder aufgestellt werde „zur Erinnerung an aller und zur Sühne für unsere Schuld.“

Das Kreuz ist bis heute (Ende 1953) nicht wieder aufgestellt worden!


T: Arnold Prant [Heidingsfelder, Georg D.?]: Deutsche Kleinstadt in der Restauration. Wahrhaftiger
Bericht über ein „Sühnekreuz“. In: Christ in der Welt. Heft 2 (März/April) 1954, S. 47-50.
[Kopie aus der Heidingsfelder-Sammlung von Irmgard und Alfons Rode Meschede; Verfasserzuordnung
zum Pseudonym: P.B.]
[Vgl. Heidingsfelders vollständige Dokumentation zum „Mescheder Sühnekreuz“ in: Bürger,
Peter / Hahnwald, Jens / Heidingsfelder, Georg D.: Sühnekreuz Meschede. Die Massenmorde an
sowjetischen und polnischen Zwangsarbeitern im Sauerland während der Endphase des 2. Weltkrieges
und die Geschichte eines schwierigen Gedenkens. Norderstedt: BoD 2016, S. 185-220.
ISBN: 978-3-7431-0267-5]


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