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Fisch sucht Fahrrad in den Bergen

In Sapa im Norden Vietnams findet jeden Samstag ein geheimnisvoller Liebesmarkt statt, auf dem die einheimischen Bergvölker traditionell auf Tuchfühlung und auf Partnersuche gehen. Ein diskreter Blick hinter die Kulissen

Ideales Hochzeitswetter sieht anders aus. Nebel liegt über den Hängen in Norden Vietnams, es ist eisig kalt. Doch Ly May Chan läßt sich die gute Stimmung nicht verderben. In den Hoang-Lien-Bergen, den mit 1600 Metern höchsten des Landes, macht sich die Siebzehnjährige an diesem Samstag morgen mit ihrer Mutter auf den Weg. Nach Sapa, zum traditionellen Markt, dessen Höhepunkt der abendliche Liebesmarkt ist.

Pfeifend, kichernd, singend und voller Vorfreude verlassen die beiden ihr Dorf. Barfuß, gekleidet in der traditionellen Tracht. Auf dem Kopf bunte Zylinderhüte, unterhalb der Knie rote Wadenwärmer, auf dem Rücken ein Korb Gemüse für die Einheimischen. Die blaugefärbten, handgestickten Tücher sind für Touristen.

"Ich will heute einen Mann finden", sagt Ly May kurz und bündig - auf englisch. Das hat sie von den Touristen gelernt. Englisch beherrschen viele der Bergvölker inzwischen besser als die Landessprache Vietnamesisch. Die Mutter lächelt und nickt, dabei entblößt sie ihre Zähne, die vom vielen Betelnußkauen rot gefärbt sind. "Am liebsten hätte ich einen Sänger", sagt Ly May, "oder einen Geschichtenerzähler." Die Mutter nickt. "Oder einen Ausländer." Die Mutter schüttelt energisch den Kopf. "Nein, dann würdest du ja unser Dorf verlassen."

Ly May und ihre Mutter gehören zum Bergvolk der Dao, einer der 53 ethnischen Gruppen Vietnams. Drei, vier Stunden lang laufen die beiden hinab in die Provinzhauptstadt Sapa, immer dem Bach nach, der in ihrem Dorf entspringt. Sapa liegt im Norden Vietnams, nicht weit von der Grenze zu China. Touristen reisen anders in die ehemalige französische Kolonialgarnison: von der Landeshauptstadt Hanoi nach Lao Cai mit dem Nachtzug, zehn Stunden durch das Tal des Roten Flusses. Anschließend geht es noch eine halbe Stunde mit dem Bus die Serpentinenstraße hinauf.

Gegen neun Uhr morgens kommen Mutter und Tochter Chan an. Mit ihnen viele andere Menschen aus den Bergen. Aus allen Himmelsrichtungen sind sie hinabgestiegen, manche sind die ganze Nacht durchgewandert. In Sapa herrscht bereits reges Markttreiben. Schwarze Hängebauchschweine flitzen herum, Kühe stapfen heran und hinterlassen ihr Geschäft auf den Straßen. Obst, Gemüse, Handarbeit und Kräuter werden auf dem staubigen Marktplatz von Angehörigen der Thay, der Nung, der Dao und der Hmong feilgeboten - Hunderte von Menschen mit unterschiedlicher Herkunft, anderen Sprachen und Gebräuchen. Neugierig drehen sie ihre Runden, begrüßen sich, schwatzen und feilschen. Der Markttag ist das absolute Highlight der Woche.

Ein paar Touristen beobachten fasziniert die Szenerie. Meist werden Ausländer von den Bergvölkern nicht beachtet. Außer wenn sie sich für Handarbeit zu interessieren scheinen. Dann entwickeln sich mitunter regelrechte Verfolgungsjagden, bei denen junge Frauen aus den Bergen die potentielle Kundschaft so lange beschwatzen und belagern, bis die ein Tuch oder eine Mütze ersteht. Oder auch zwei. Den Touristen sichert das den Souvenir-Nachschub, den Einheimischen das Essen für sich und ihre Familie.

In den Mittagsstunden taucht die Sonne das Hochland um Sapa in ein angenehmes Licht - Zeit für die landestypische Siesta. Die ersten Männer fangen an, ihrem selbstgebrannten Reisschnaps zuzusprechen. Ein paar Frauen, meist ältere, lassen eine Bambuspfeife kreisen, die - wie sich herausstellt - nicht mit Tabak gestopft ist, sondern mit Opium. Seit Generationen schon pflanzen die Bergvölker Nordvietnams Schlafmohn an, aus dessen Kapseln sie das Rauschmittel gewinnen.

Langsam rückt der Abend näher und mit ihm der Höhepunkt des Samstags, der Liebesmarkt, dem Ly May schon seit dem Morgengrauen entgegenfiebert. Allmählich macht man sich auf den Weg Richtung katholische Kirche, die gleich neben dem örtlichen Fußballfeld steht, dem Ort des Geschehens. Gegen 22 Uhr hat sich dort eine stattliche Menschenmenge versammelt.

Der Bolzplatz verwandelt sich zusehends in einen Balzplatz. Abwechselnd führen die jungen Frauen aus den Bergen etwas vor: meistens ein Lied, manchmal ein romantisches Gedicht, hin und wieder auch einen Tanz. Sie machen Werbung für sich und manchmal auch schöne Augen. Für die Männer, die durch die Reihen schlendern, die potentiellen Heiratskandidatinnen mustern, mit Blicken abtasten.

Die Frauen antworten auf alle Fragen, die man ihnen stellt: nach Namen und Alter, nach Herkunft und Hobbys, nach ihrem Lieblingsessen, ihrer Lieblingsmusik, ihren Eltern und Geschwistern. Es geht geräuschvoll zu auf dem Platz. Die Mädchen sind meist schüchtern, einige kichern leise, während die Männer laut und gestikulierend reden und immer wieder in schallendes Gelächter ausbrechen, das als Echo von den Mauern der Kirche über die ganze Stadt getragen wird. Hin und wieder, wenn sich zwei gefunden haben, verschwindet ein Paar in der Dunkelheit der nächtlichen Stadt.

Im Hintergrund, mit respektvollem Abstand, warten ein paar Touristen. Sie trauen sich nicht recht, Fotos zu schießen, und scheinen sichtlich erstaunt über das archaische Schauspiel, das aus westlicher Perspektive einigermaßen skurril anmutet.

Der samstägliche Markt von Sapa hat sich längst zu einer über die Grenzen der Stadt hinaus bekannten Partnerschaftsbörse entwickelt, auch wenn das ursprünglich gar nicht beabsichtigt war. Denn dem Ganzen liegen christliche Motive zugrunde: In den 20er Jahren hatten eifrige französische Missionare die Angehörigen der Bergvölker aufgefordert, jeden Sonntag zur Messe in die Kirche von Sapa zu kommen.

Da das Gotteshaus für einen morgendlichen Spaziergang für die meisten zu weit entfernt lag, waren schon damals viele Menschen bereits am Abend zuvor in die Stadt gekommen. Binnen kurzem entwickelte sich daraus der Liebesmarkt für alt und jung - eine Art "Fisch sucht Fahrrad"-Singleparty der Bergvölker, denn für den Samstagabend hatten sich die Missionare natürlich kein Alternativprogramm ausgedacht.

Und das ist noch heute so. Wie viele Ehen, Liebesnächte und Kinder tatsächlich durch den Heiratsmarkt von Sapa zustande kommen beziehungsweise gekommen sind, kann niemand genau sagen. Die Zahl dürfte aber recht hoch liegen, denn es ist hier Brauch, daß nicht nur Alleinstehende, sondern auch Verheiratete auf dem Markt einen Liebhaber finden. Nachkommen aus solchen Affären sind sogar erwünscht, sie werden wie die eigenen Kinder akzeptiert.

Mittlerweile gibt es in der Stadtverwaltung von Sapa Überlegungen, die Brautschau auf einen größeren Platz zu verlegen - denn der Markt lockt mehr und mehr ausländische Zuschauer an. Eine bescheidene touristische Infrastruktur gibt es in Sapa mittlerweile auch: einfache Hotels, authentisch und gemütlich; ein Zimmer findet sich auch ohne Voranmeldung, die Preisspanne liegt zwischen 5 und 90 Euro. Selbst eine Sauna für durchgefrorene Bergwanderer hat jüngst eröffnet.

Ly May hat unterdessen jemanden kennengelernt. Ein Vietnamese hat sie beiseite gezogen und redet energisch auf sie ein. Es scheint, als wolle er sie gleich in sein Heimatdorf mitnehmen. Doch schon fünf Minuten später kehrt Ly May ihm den Rücken. "Er ist wahrscheinlich betrunken", sagt sie lachend und zeigt dabei ihre gelben Zähne von allen Seiten. "Ich habe einfach nicht verstanden, was er gesagt hat."

Dann ergreift sie ihre letzte Chance für diesen Abend: Sie legt sich schlafen. Denn bei den Männern vom Stamme der Hmong, der größten ethnischen Gruppe in den Bergen, ist es Sitte, eine Frau des Nachts von ihrem Schlafplatz zu entführen - das kommt traditionell einem Heiratsantrag gleich.

Gegen eine Entführung durch einen Hmong hätte auch Ly May nichts. Doch sie geht leer aus und schläft ungeweckt und unentführt bis zum Sonntag morgen. Dann macht sie sich mit ihrer Mutter auf den langen beschwerlichen Weg zurück in die Berge. Sie freut sich schon. Auf den nächsten Samstag. Thorben Leo


Artikel erschienen am 13. November 2005

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